Rezension

Unsympathische Hauptfigur, langatmig, unverständliche Entwicklung - Nichts für mich! ​

Great Expectations - Charles Dickens

Great Expectations
von Charles Dickens

Bewertet mit 2 Sternen

Ich bin ein großer Fan von Dickens‘ Roman „Oliver Twist“ und „Great Expectations“ wurde mir unter anderem von meiner besten Freundin ans Herz gelegt. Ich habe wirklich, wirklich versucht diesen Roman zu mögen. Doch leider fand ich ihn schrecklich.

„Great Expectations“ ist ein sehr auf die Hauptfigur Pip fokussierter Roman. Vom Klappentext und den ersten Seiten her kann man sich bereits denken, dass es viel um Pips Charakter und seine Entwicklung gehen soll. Leider ist dies meiner Meinung nach absolut nicht gelungen.

Auf den ersten Seiten war Pip mir noch recht sympathisch. Er ist ein verängstigtes, unterdrücktes Kind, das sich nach Liebe und Anerkennung sehnt. Doch spätestens seit seiner ersten Begegnung mit Estella, der Ziehtochter einer reichen Dame in Pips Nachbarschaft, war das für mich vorbei. Pip verliebt sich in Estella, obwohl diese ihn von Anfang an abfällig behandelt, und wird so besessen von ihr, dass sein Lebensziel fortan daraus besteht, für sie ein „Gentleman“ zu werden. Für ihn heißt das offenbar vor allem Geld zu haben und das verschwenderisch auszugeben. Von diesem Moment an war ich enttäuscht von Pips Oberflächlichkeit und seiner Fokussierung auf materielle Dinge und eine Frau, die er kaum kennt.
Dies geht einher mit einer unfassbaren Undankbarkeit Pips gegenüber Personen aus seinem „alten Leben“, insbesondere seinem liebevollen „Stiefvater“ Joe und der jungen Biddy, die ihm stets mit Rat und Tat zur Seite stand. Er blickt verächtlich auf sie hinab, weil sie kein Geld haben und ungebildet sind, ohne sich für ihre tollen Persönlichkeiten zu interessieren. Pip wird undankbar, arrogant und leichtsinnig und regte mich daher einen Großteil des Buches tierisch auf.
Mir ist klar, dass der Sinn des Romans vermutlich ist, Pips Entwicklung zu einem guten Menschen darzustellen, und zu zeigen, wie er aus seinen Fehlern lernt und seine Jugendlichen Charakterfehler bereut. Leider hatte ich nicht den Eindruck, dass es eine solche Entwicklung gab oder, sollte es sie doch geben, sie in irgendeiner Form nachvollziehbar gestaltet wurde.
Zwar tut Pip im Laufe des Buches auch einige gute Dinge, allerdings hauptsächlich, weil er denkt, es wäre gut so zu handeln (soziale Erwünschtheit), und nicht aus persönlicher Überzeugung. Es dauerte etwa 60% des langatmigen Romans, bis ich das Gefühl hatte, dass Pip überhaupt etwas dazulernte.
Am Ende des Romans macht Pip dann plötzlich eine Wandlung durch, die für mich aus dem Nichts und völlig überstürzt kam, wodurch sie für mich absolut nicht nachvollziehbar war.

Ein weiteres großes Figuren-Problem hatte ich mit Estella und Pips Beziehung zu ihr. Von ihrer ersten Begegnung an ist Estella fies zu Pip, beleidigt ihn und gibt ihm das Gefühl, aufgrund seines Standes weniger wert zu sein. Dennoch verliebt er sich in sie, obwohl das einzig Positive, das er über sie sagen kann, ist, sie sei wunderschön und elegant. Von einer schönen Person fasziniert zu sein ist ja noch ein Stück weit normal, doch im Laufe des Buches spielen Estella und auch Miss Havisham stets mit Pip und manipulieren ihn und doch sieht er nie ein, dass es an Estella rein gar nichts Positives für ihn gibt und sie ihm nicht guttut. Er sagt des Öfteren er könnte sich nicht von ihr lösen, was für mich ähnlich klang wie die Aussagen von Menschen, die in ihrer Beziehung jahrelang häuslicher Gewalt ausgesetzt waren - Definitiv nicht gesund, was im Roman meiner Meinung nach leider viel zu wenig problematisiert wird. Das konnte ich beim besten Willen nicht nachvollziehen und es regte mich die gesamte Lektüre über auf.

Auch den anderen Figuren stand ich skeptisch gegenüber. Einige sind wirklich liebenswert und gut charakterisiert, beispielsweise Joe, Biddy, Pips Freund Herbert und der Anwaltsgehilfe Wemmick oder zumindest auf exzentrische Art unterhaltsam wie der Anwalt Jaggers. Andere dagegen wirken einfach nur überzogen, wie zum Beispiel Miss Havisham oder Mr. Pumblechook.
Gut gefallen hat mir allerdings, wie Dickens sich zum Teil über seine Figuren lustig zu machen scheint und einige von ihnen unfreiwillig komisch wirken.

Größtenteils unsympathische Figuren wären für mich vielleicht noch erträglich gewesen, wenn es eine spannende Handlung gegeben hätte, doch leider konnte ich größtenteils keine erkennen. Wie bereits erwähnt liegt der Fokus des Romans hauptsächlich auf den Figuren, besonders auf Pips Leben und Entwicklung. Die ersten zwei Drittel des Romans plätschern daher eher vor sich hin, abgesehen von gelegentlichen neu eingeführten Figuren und Handlungsorten. In Kombination mit dem für mich unerträglichen Protagonisten langweilte ich mich dabei extrem.
Im letzten Drittel kommt es dann zu einigen Enthüllungen, die durchaus interessant und überraschend waren, in meinen Augen jedoch zum Teil auch zu viel es Guten. Die letzten Seiten bilden dann plötzlich ein sehr abgehacktes Ende, als hätte Dickens gemerkt, dass er sein Buch endlich abschließen müsse.

Dickens Schreibstil ließ mich ebenfalls zwiegespalten zurück. Besonders Pips kindliche Perspektive zu Beginn des Buches, die ihn als Erzähler teilweise unverlässlich werden ließ, fand ich gut gelungen. Die lebhafte Fantasie eines Kindes wird hier wunderbar dargestellt.
Später amüsierte Dickens mich des Öfteren durch seine bzw. Pips teilweise recht bösen, trockenen und humorvollen Beschreibungen, besonders von Personen.
Häufig war mir der Schreibstil jedoch auch deutlich zu ausladend und zu schwülstig, was ihn besonders im englischen Original recht anstrengend machte. Ungewöhnlich fand ich auch, dass Menschen mit niedrigerem Bildungsstand mit einer Art Akzent zu sprechen scheinen, bei der sich die Schreibweise ihrer wörtlichen Rede an ihre Aussprache oder ihre schlechte Rechtschreibung (würden sie schreiben) anpasst. Das machte das Lesen ebenfalls teilweise anstrengend.

Fazit

In „Great Expectations“ zeigen sich Dickens‘ Humor und sein Talent für originelle Figuren. Leider konnte ich die Hauptfigur weder leiden noch verstehen und bei ihm keine wirkliche Entwicklung erkennen. Zudem war die Handlung in meinen Augen zunächst langatmig und am Ende überstürzt und abgehackt. Leider keine Empfehlung meinerseits.