Rezension

Unter einem Eisbären kann es sehr dunkel sein...

Kalmann -

Kalmann
von Joachim B. Schmidt

Bewertet mit 5 Sternen

Ein schräger Held, eine außergewöhnliche Geschichte. Humor, Spannung, grandiose Naturschilderungen und Denkanstöße: alles dabei.

Er ist der selbsternannte Sheriff von Raufarhöfn. Er hat alles im Griff. Kein Grund zur Sorge. Tag für Tag wandert er über die weiten Ebene um das beinahe ausgestorbene Dorf, jagt Polarfüchse und legt Haiköder im Meer aus, um den Fang zu Gammelhai zu verarbeiten. Doch in Kalmanns Kopf laufen die Räder manchmal rückwärts. Als er eines Winters eine Blutlache im Schnee entdeckt, überrollen ihn die Ereignisse. Mit seiner naiven Weisheit und dem Mut des reinen Herzens wendet er alles zum Guten. Kein Grund zur Sorge.

Kalmann ist ein besonderer Held. Aus seiner Ich-Perspektive wird die Geschichte hier konsequent erzählt - und das macht es dem Leser nicht immer leicht. Manchmal vergisst Kalmann Sachen einfach, gelegentlich versteinert er und ist wie abgeschaltet, und zuweilen schäumt die Wut über und lässt ihn explodieren. Dann macht er Dinge kaputt und verletzt vor allem sich, manchmal aber auch andere. Kalmann ist - lt. Autor - der Dorftrottel von Raufarhöfn (sprich: Reuwarhöbb), der selbsternannte Sheriff des kleinen Fischerdorfes an der Norostküste Islands. Vor allem aber ist er Jäger und Haifischfänger und macht den zweitbesten Gammelhai von ganz Island.

Auch wenn ihn immer ein scharfwabernder Ammoniakgeruch umgibt - schließlich führt er stets eine kleine Dose mit Gammelhai mit sich - gehört Kalmann zum Dorfbild und wird von den 173 Dorfbewohnern akzeptiert. Er lebt mit seinen fast 34 Jahren mittlerweile alleine in dem Haus seines Großvaters, der aufgrund seiner Demenz schon seit einiger Zeit in einem Altersheim in der nächstgelegenen Stadt untergebracht ist. Seine Mutter ist beruflich sehr eingebunden und lebt in einem anderen Ort, schaut aber gelgentlich bei Kalmann nach dem Rechten. Sein einziger Freund Nói ist eine Internetbekanntschaft, dem er bislang nur online begegnet ist. Aber Kalmann kommt ganz gut allein zurecht. Eigentlich.

Denn jetzt gerät seine kleine Welt in Aufruhr. Eine riesige Blutlache, ein verschwundener Geschäftsmann, die herbeigerufene Polizei - all das ist weit entfernt von dem geruhsamen Alltag mit langen Wanderungen in der Natur, einsamen Fahrten auf dem Meer oder TV-Serien auf der Couch, den Kalmann gewöhnt ist. Naiv aber bemüht stolpert der junge Mann durch das Geschehen, und merkwürdig ist das schon: egal was geschieht - Kalmann ist irgendwie immer mittendrin.

Joachim B. Schmidt ist Schweizer, lebt aber schon seit 13 Jahren in Island. Die Schilderungen von Landschaft, Wetter und Natur wirken daher nicht nur ausgesprochen authentisch, sie sind es wohl auch. Rau, karg, unwirtlich - und durch die Augen Kalmanns doch auch liebenswert. Es passt daher, dass der Autor immer wieder auch Betrachtungen einfließen lässt über das Verhältnis von Mensch und Tier oder auch von Mensch und Natur - und dass der Mensch dabei nicht unbedingt gut wegkommt. Mit den Augen Kalmanns erhalten diese Betrachtungen einen naiven Anstrich, wirken aber in ihrer Naivität und Einfachheit logisch und unbestechlich.

 

"Früher brauchte man nur die Leber vom Hai, und den ganzen Rest schmiss man wieder ins Meer. Aus der Leber wurde Tran gewonnen, und der Lebertran wurde nach Europa verschifft, wo man die Straßen der Städte beleuchtete. Diesen Gedanken fand ich verrückt. Ich meine, ein Grönlandhai, der hier oben im Norden in mehreren hundert Metern Tiefe lebt, in totaler Dunkelheit, dann aus dem Meer gezogen wird und Licht in die Straßen europäischer Großstädte bringt!" (S. 195)

 

Es mag nicht ganz zur gewollten Charakterzeichnung eines behinderten jungen Mannes passen, dass hier in der Erzählung solcherlei philosophische oder auch gesellschaftskritische Gedankengänge einfließen. Ich mochte diese Mischung aus Naturbetrachtung, Spannung, Humor und kleinen Denkanstößen allerdings sehr - das machte die Lektüre abwechslungsreich, unterhaltsam und überraschend. Selbst der Titel meiner Rezension findet Eingang in die Erzählung und wird am Ende aufgelöst.

Der Erzählfluss ist ruhig und beschaulich, selbst wenn sich die Ereignisse zuspitzen, der Schreibstil passend zum Hauptcharakter Kalmann meist einfach und pragmatisch gehalten, dabei trotz der durchgängigen Nüchternheit teilweise berührend und oftmals gerade deswegen sehr amüsant. 

Ein Roman, der mich überrascht hat, eine schräge Erzählung mit Unterhaltungswert und mit wirklichen Einblicken in das Leben in Island, mit interessantem Hintergrundwissen und Denkanstößen. Eine bunte Mischung mit blutigem Krimianteil und einem schrägen Hauptcharakter, doch empfand ich es nicht als störend, dass sich der Roman in keines der bekannten Genres richtig einordnen lässt.

Spannend, überraschend, unterhaltsam - kurz: empfehlenswert!

 

© Parden