Rezension

Unterschätze deinen Gegner nicht

Der Abgrund in dir
von Dennis Lehane

Bewertet mit 4 Sternen

Rachel schießt auf ihren Mann, der vor ihren Augen vom Boot rückwärts ins Wasser stürzt. Lange habe ich mich gefragt, ob sie das je bereut hat.

Rachel Childs ist die Tochter einer prominenten Verfasserin von Eheratgebern, die in Rachels Kindheit ständig auf Lesereise zu sein scheint. Elizabeth selbst hält ihre Bücher für Quacksalberei und wer sie näher kennenlernt, wird ihre Selbsteinschätzung sehr treffend finden. Nachdem Elizabeth sich von ihrem damaligen Partner getrennt hat, weigert sie sich strikt, Rachel zu verraten, wer ihr Vater ist. Rachel fühlt sich vom Vater verlassen und versucht intensiv, den unbekannten Mann zu finden, der in einer typischen College-Gegend an irgendeiner Hochschule unterrichten soll. Erst allmählich wird sie erkennen, wie ihre Mutter sie systematisch von anderen Menschen isolierte, um sie ganz für sich zu haben. Elizabeth wirkt manipulativ, eine verbitterte Frau, die selbst nicht glücklich sein kann und anderen nicht das kleinste Quäntchen Glück gönnt. Allerdings habe ich mich gefragt, ob Rachels Mutter nicht auch andere Seiten gehabt haben kann; denn ich erfahre hier nur von der Fassade, die sie aufbaute und an deren Bildung Rachel offenbar eifrig mitwirkt.

Jahre später, ihre Mutter ist inzwischen verstorben, berichtet Rachel als Journalistin vom Erdbeben 2010 in Haiti und erleidet vor laufenden Fernsehkameras einen Panikanfall. Rachels Karriere ist damit am Ende. Ihr Zusammenbruch scheint erst die Spitze des Eisbergs einer psychischen Erkrankung zu sein, und ihre Ehe hält der Belastung nicht stand. Mit dem Versuch, ihre Neurosen zu beherrschen, verlässt Rachel nach langer Zeit endlich das Haus und trifft auf Brian, der ihr als simpler Holzhändler bei ihrer ersten Begegnung nicht gut genug war. Die beiden verlassenen, ungeliebten Kinder scheinen Seelenverwandte zu sein, bis die Idylle bricht, als Rachel Brian zunehmend misstraut und ihm nachzuspionieren beginnt. Der stete Tropfen des Misstrauens zeigt bald seine Wirkung. So wie ich zuvor Rachels Mutter mir verborgene menschliche Züge zutraute, versuchte ich mir nun vorzustellen, was Brian verbergen könnte und ob für die Handlung entscheidend werden könnte, was ich über Rachel noch nicht weiß, weil mir nur ein sorgfältig von ihr gestaltetes Bild zur Verfügung steht.

Es folgt ein äußerst spannender Kampf mit harten Bandagen und mit zahlreichen überraschenden Wendungen. Die Überschrift dazu könnte lauten, niemals jemanden im Guten oder im Bösen zu unterschätzen.

Dennnis Lehane zeigt sich in seiner Psychostudie als scharfer Beobachter; allein die Darstellung von Elizabeth Childs war mir zu plakativ und viel zu ausufernd. Dadurch kommt die Handlung erst sehr spät in Gang und für manchen Leser werden 150, 200 Seiten zu viel sein, von denen nicht klar ist, wohin das Ganze führen soll.