Rezension

Unwiderstehlich

Der Morgenstern
von Karl Ove Knausgard

Bewertet mit 5 Sternen

Zwei Tage in einer norwegischen Kleinstadt, 9 Figuren, aus deren Perspektive Knausgard das Geschehen in nur 2 brütend heißen Tagen aufrollt. Auf den ersten Blick haben die meisten dieser Menschen nichts miteinander zu tun. Auf den zweiten gibt es dünne Fäden, die sie miteinander verbinden. Gemeinsam haben sie ihre mehr oder weniger desolaten Beziehungen, ihren hilflosen Wunsch nach Veränderung und, vor allem die Männer, ihre Unfähigkeit zu selbstloser Liebe, zu Empathie, zur Hingabe. Sein Personal ist Knausgard überzeugend dreidimensional geraten - die Männerfiguren insgesamt farbiger als die weiblichen. Der Eindrücklichste ist Jostein, ein Fiesling von einem Journalisten. Und alle Männer saufen wie die Ketzer. 

In all den Konflikten und seltsamen Geschehnissen, die in jedem Strang auftauchen, versuchen die Charaktere, ihr Leben irgendwie weiterzuführen. Manches ist nur seltsam – Krebse flüchten in den Wald, Hirsche bleiben auf der Straße stehen und lassen sich anfassen. Manches ist furchterregend. Vögel mit Schuppen und menschlichen Gesichtern? Muss man sich eingebildet haben. Dem seit Tagen Toten kann man nicht erst gestern in einer anderen Stadt begegnet sein, eindeutig Einbildung. Und wenn ein Geisteskranker, der noch nie gesprochen hat, plötzlich verkündet "Du bist gerichtet worden", muss man sich verhört haben. Man rettet sich in Rationalität, aber, und das liest sich wie Grusel, im Roman ist ganz klar, dass sie sich nichts eingebildet haben. Was sie gesehen, gehört haben, ist real.

So wie der helle Stern, der plötzlich am Himmel steht und selbst tagsüber zu sehen ist. Ist dieser ein Zeichen? Und wenn ja, wofür? Sind wir wirklich alle gerichtet worden, und wenn ja, inwiefern? Ist die Klimakrise (die im Roman nur einmal explizit erwähnt wird, aber durch die brüllende Sommerhitze ständig präsent ist) das Urteil?

Knausgard geht an die Grenzen des Vorstellbaren, löst sie auf und erzeugt Skepsis gegenüber der eigenen Wahrnehmung. Sind wir alle blind, weil wir bestimmte Dinge systembedingt ausblenden? Offensichtlich ist Wissen etwas anderes als Glauben. Können wir an den Tod, an die Klimakrise, einfach nicht glauben? Verstellt uns das Wissen den Blick? Knausgards Figuren denken über Tod und Teufel, Paradies und Auferstehung, das Wesen der Zeit und die Existenz Gottes nach. Laut FAZ nichts weiter als ein Kierkegaard-Aufguss. Aber da ich Kierkegaard nicht gelesen habe und das auch nicht tun werde, bin ich dankbar für dieses inspirierende Konzentrat.

Das alles, typisch für Knausgard, eingebettet in Beschreibungen alltäglichster Tätigkeiten, wodurch das Seltsame noch seltsamer wirkt. Am Schluss gibt es einen derartigen Cliffhanger, dass man am liebsten SOFORT weiterlesen möchte. 

Trotz seiner fast 900 Seiten, trotz (oder wegen?) seiner herausfordernden Struktur, habe ich mich keine Seite lang gelangweilt. „Der Morgenstern“ liest sich unwiderstehlich.