Rezension

Vaterloses Aufwachsen

Brüder - Jackie Thomae

Brüder
von Jackie Thomae

Bewertet mit 4 Sternen

Zwei Halbbrüder, die nichts voneinander wissen. Ein Vater, der nur von einem seiner Söhne weiss.

In der ersten Hälfte des Romans steht Mick im Mittelpunkt. 1970 in Ostberlin geboren. Seine Mutter Monika, eine recht ambivalente Frau, entschloss sich bald nach Westberlin umzusiedeln. Mick bleibt das ewige Kind, unstet, unverbindlich, Partygänger und Clubmitbesitzer. Mit seiner Freundin Delia, auf die er sich nie so recht einlässt, lebt er in ihrem Haus in Berlin-Pankow. Delia wünscht sich sehnlichst ein Kind.

In einem kleinen Zwischenspiel wird Idris näher beleuchtet. Aus Senegal stammend, erhielt dieser ein Stipendium für ein Medizinstudium in der DDR. Dort lernte er Monika und auch Gabriele kennen, die Mütter seiner Söhne. Er kehrt jedoch in seine Heimat zurück. In Dakar ist er nun seit langem als Zahnarzt erfolgreich tätig. Irgendwann besucht er wieder seine Freunde in Deutschland und beginnt sich zu erinnern, wird wachgerüttelt und Verdrängtes kommt zum Vorschein.

Im zweiten Teil steht Gabriel, der Sohn Gabrieles im Fokus. Von den Großeltern großgezogen, wurde er Stararchitekt und dozierte zuletzt, bis zu seinem Ausschluss, an der Uni. Verheiratet ist er mit Fleur. Sie haben einen gemeinsamen Sohn Albert, der, aktuell in der Pubertät, schwierig in seinem Verhalten ist.

Im letzten Abschnitt verbinden sich diese drei Stränge...

Ein sehr detaillreiches Familienepos entblättert sich hier Seite um Seite. Die Protagonisten sind überaus authentisch und realistisch gezeichnet. Sie sind lebendig und glaubhaft. Ein Vergleich, ein Gegenüberstellen der Figuren und ihrer Lebensentwürfe drängt sich natürlich auf und ist durchaus spannend. Sehr interessant und eindrücklich werden die Beziehungen der Figuren beleuchtet. Abhängigkeiten, Beeinflussungen, Prägungen werden deutlich, weitreichende Folgen offenkundig, selbst nach nur kurzen (Zufalls-)Begegnungen.

Der Hintergrund ist recht groß angelegt- von der DDR der 70er Jahre, über das Berliner Clubleben der 90er bis hin nach London der begüterten Bessergestellten, deren Kinder aufs Internat gehen und ohne social media nicht mehr existieren können.

Der Roman ist sehr vielschichtig. Fragen nach Herkunft, Identität und Zugehörigkeit werden aufgeworfen. Nie explizit, aber immer deutlich spürbar die Frage nach bzw. "Problematik" der Hautfarbe, des Fremdseins. Es geht um die Ost-Westthematik, Rassismus, Erziehungsfragen und natürlich um Mutterschaft und Vaterschaft. Die Rollenzuschreibungen werden gegenübergestellt und die daraus abgeleiteten Verantwortlichkeiten. Das ist sehr spannend, zeigt es doch, dass es letztendlich ganz legitim ist, wenn Väter sich nicht kümmern, Mütter hingegen, egal was sie tun, dies oder jenes stets vorgeworfen bekommen, dass sie an bestimmten Entwicklungen des Kinders "schuld" seien. Was geben Väter? Was geben Mütter? Wie wachsen die Kinder ohne Vaterfigur auf? Wie prägt sie das?

Viele Fragen werden aufgeworfen und laden zum Nachdenken und Diskutieren ein. All die Themen werden dabei mühelos und beiläufig im Text verwoben, es sind die Lebensthemen der Figuren.

Neben Nachdenklichem finden sich auch Witz und Satire im Roman. Die Autorin hat zudem die unglaubliche Gabe in scheinbar beiläufigen Nebensätzen Gewaltiges zu packen, das mit voller Wucht einschlägt. Dennoch, besonders in der ersten Hälfte, zum Ende hin weniger, langweilten mich einige Passagen. Zeitraffend, nüchtern, berichtend wird hier der Leser von den Lebenswegen der Protagonisten in Kenntnis gesetzt. Sobald die Autorin jedoch wieder näher an den Szenen verweilte, konnte sie mich gut mitnehmen.

Auch Mick hat mich nicht so sehr interessiert, weil mich Typen wie er grundsätzlich nicht sonderlich interessieren und mir wenig sympathisch sind. Das ist jedoch rein subjektiv und aus Frauensicht, ich glaube Männer finden solche Kumpels toll, es sei denn, es geht wirklich ans Eingemachte..:) Dennoch hat sie ihn sehr eindrücklich und wirklich grandios als Figur entwickelt. Gabriel fand ich hier etwas interessanter, da er meinem Erfahrungshorizont ferner ist und etwas sympathischer wirkte. Zudem standen hier auch Fleur und Albert mehr im Fokus sowie deren Interaktionen untereinander, die das Ganze etwas spannender machten.

Gegen Ende, als ich alles in einen Blick bekam, entfaltete diese unglaublich große und dichte Beschreibung ihre volle Wirkkraft und liess mich staunen und der Autorin für ihr Werk Respekt zollen.