Rezension

Verdichtet. Literarisch belanglos.

Sechs Koffer - Maxim Biller

Sechs Koffer
von Maxim Biller

Bewertet mit 2 Sternen

Ein Roman, an dem sich die Geister mal wieder scheiden. Einige finden ihn brillant, andere nicht. Ratet, zu welcher Fraktion ich gehöre.

Wie in vielen Nachkriegsfamilien ist auch bei den Billers die Atmosphäre durch Unausgesprochenes oder Halbgeäussertes vergiftet. Ausgangspunkt der Erzählung ist Prag, wohin die Eltern des Icherzählers (Maxim Biller), Rada (Mutter) und Sjoma (Vater) schon emigriert sind. Im Hause Biller spricht man Russisch, das Tschechische ist ebenfalls geläufig. Der Rest der Familie verstreut sich im Laufe der Zeit, Dima (Onkel, Bruder des Vaters) lebt in Zürich wie Lev (Onkel, Bruder des Vaters. Waldimir (Onkel, Bruder des Vaters) lebt in Südamerika, man hat keinen Kontakt und Natalia (Frau von Dima, Bruder des Vaters) ist in London mit Etti ihrer Tochter. Jede Menge Familie. Alles Kosmopoliten wider Willen. Juden. Natalia, Überlebende, ist direkte Betroffene des Holocaust. Sie landete im KZ.

Und einer von der Familie hat den Kommunisten gesteckt, dass der Grossvater Devisen schmuggelt(e), woraufhin er in Moskau verhaftet und hingerichtet wurde. Anno dunnemal. Es gibt jede Menge Verdachtsmomente. Jeder verdächtigt jeden und Lev spricht mit niemandem mehr. Ausserdem will jeder von jedem Geld.

Man liebt sich. Aber man traut sich nicht über den Weg. Die Wasser sind zu tief für die Königskinder Biller. Selbst die Enkel können sich nicht von den Schatten der Vergangenheit befreien.

Ein tolles Thema. Doch. Aber. Der Roman Billers verdichtet die Handlung so ausserordentlich, dass von einem Lesevergnügen nicht die Rede sein kann. Empathie kommt so nicht auf. Der Roman bleibt zu sehr Kopf. Weder Bauch noch Herz werden erreicht. Schreibt ein Autor, um dem Leser Vergnügen zu bereiten? Das kann man nicht erwarten.

Der Leser muss raten, wer den Grossvater verriet, jeder Leser wird eine andere These haben. Wie auch jedes Familienmitglied eine eigene Meinung dazu hatte. Allein, es hat mich nicht interessiert.

Im Roman werden viele Themen angerissen. Die Personen selber sind verkürzt. Nähe verboten, habe ich gefühlt!

„Sechs Koffer“ von Maxim Biller ist ein Roman voller unwichtiger Details und einiger pubertierender Gedanken über Sex, die überhaupt nicht zum Thema gehören, Hauptsache, „Sex ham mr abgehakt" und vieler Andeutungen. Ein unepischer Roman, in den man sich nicht fallen lassen kann. Kein Roman zum Mitleiden. Auch kein verstörender Roman. Wollen wir ehrlich sein, ein langweiliger Roman über eine Familienzwistigkeit, über ein Familiengift, der am meisten die interessiert, die es angeht.

Legitim ist es allemal, sich ein Familiendrama vom Herzen zu schreiben. Zumal ein Subtiles. Doch werden weder Migration noch Regimedruck, noch die Zwangslage einzelner ausgelotet. Mich interessierte diese Erzählung deshalb nicht. Mich interessierte die ganze Familie nicht. Sollte es? Müsste es? Weil es sich um eine jüdische Familiengeschichte handelt? Mitnichten. Ich lese und leide mit Aharon Appelfeld. Jedoch nicht mit Biller.

Die Sprache ist nicht bemerkenswert. Unwichtige Details lenken den Blick ab. Es fällt schwer, sich zu fokusieren. Die Geschichte geht nicht unter die Haut. Allenfalls, weil man nachdenken muss, woher denn der Titel kommt.

Sind Romane schon allein deshalb von literarischem Belang, wenn sie sich mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzen, mit den Nachwirkungen des Holocaust, weil sie jüdisches Schicksal behandeln? Manche denken es. Darf ich diesen Roman trotzdem für literarisch belanglos halten, dafür aber noch einmal eine Lanze für Aharon Appelfeld brechen? Ich weiß es nicht: ich tue es einfach. Meinungsfreiheit!

Fazit: Zugute halten muss man dem Roman, dass er nicht larmoyant ist. Doch unepisch. Knapp. Detailverliebt. Was er sich in seiner Kürze gar nicht leisten könnte. Ein Familienbericht, der nur die interessiert, die es angeht. Ich bin das nicht!

In der Kategorie „Anspruchsvolle Literatur“: 2 Punkte.
In der Kategorie „Gute Unterhaltung“ lasse ich 3 Punkte springen.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Gelistet: Shortlist 2018

Kommentare

Steve Kaminski kommentierte am 02. Oktober 2018 um 11:24

Eine Lanze für Aharon Appelfeld brechen - das ist immer gut!!!

Philipp Buschatz kommentierte am 06. Oktober 2018 um 20:59

Schöne Rezension! Aber was ist für dich "anspruchsvolle Literatur"? Wie bewertet du diese?

Ich finde ja, zu "verdichten" ist ein großes Kompliment! Wer schafft das schon? Und ich mag es, wenn vieles eher angedeutet wird und vieles in der Schwebe bleibt.

Ich fand das Buch sehr berührend. Die Figur der Natascha zum Beispiel! Ihr Brief ist doch glänzend geschrieben?

wandagreen kommentierte am 16. Oktober 2018 um 19:18

Du hast da gar nicht unrecht! Verdichten ist Kunst. Ich habe das erkannt. Aber nicht honoriert. Mir war es so dicht, dass Gefühle auf der Strecke blieben. Anderes wieder wird zu ausgedehnt, z.B. die pubertierenden Gedanken des Erzählers. Es ist eben tatsächlich ein polarisierenden Roman.