Rezension

Vergangenheit und Gegenwart

Alles ringsum Sichtbare - Andreas van Hooven

Alles ringsum Sichtbare
von Andreas van Hooven

Bewertet mit 5 Sternen

„… Wenn Joni ausgelassen ist, scheinen sich die kleinen Flecken sprunghaft zu vermehren. Sie übernehmen im Nu die Herrschaft unter ihren Augen, über den feinen Wangenknochen und der Stirn...“

 

In Tricity auf der polnischen Insel Hel treffen sich Joni Fraunburg und Nando Frauenburg. Ihre Urgroßväter waren Brüder. Joni, die in Amerika groß geworden ist und nun in Gdynia arbeitet, hat sich auf die Suche nach der deutschen Verwandtschaft gemacht. Das Testament ihrer Tante Rebekka hat dies eingefordert.

Der Autor hat einen bewegenden Roman geschrieben. Zwei Generationen stehen im Mittelpunkt: die Generation der Großeltern, die den Krieg erlebt haben, und die Generation der Enkel, also Joni und Nando.

Von den Großeltern leben nur noch die Frauen. Ihre Männer, die Cousins Hans und Karl, sind tot.

Die Enkel werden gut durch ihr Verhalten charakterisiert. Es dauert, bis in der Geschichte klar wird, warum sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten.

Joni ist eine selbstbewusste und erfolgreiche junge Frau. Nandos Gedanken zu ihren Sommersprossen stehen im Eingangszitat. Sie hat aber auch eine dunkle Seite. Und die klingt so:

 

„...Dein ganzes Leben ist ein Duell...“

 

Alles, was sie tut, fühlt sich nach Kampf an. Sie möchte die Beste und Erfolgreichste sein .Das äußert sich leider auch in mangelnder Rücksichtnahme gegenüber dem anderen und gegenüber dem eigenen Körper. Ein gestecktes Ziel muss unbedingt erreicht werden, koste es ,was es wolle.

Nando ist Journalist. Auch er möchte erfolgreich sein, hat sich aber den Blick für die Schönheiten des Lebens bewahrt. Er kann auch einen Moment der Ruhe genießen, so beim Beobachten eines Rehkitzes.

 

„...Sieh dir seinen aufmerksamen Blick an! So neugierig und ängstlich zugleich. Er weiß genau, wer wir sind und das wir Abstand halten sollen. Und das zeigt er uns auch...“

 

Der Schriftstil ist ausgereift. Durch den Wechsel der Erzähler sehe ich die Geschichte nicht nur aus verschiedenen Blicken, es wird auch die Steigerung zum Höhepunkt damit erreicht. Während der erste Teil von Nando und der zweite von Joni erzählt werden, wechselt danach der Erzähler schon nach jeden Kapitel und im vorletzten Teil nach jedem Abschnitt.

Die hohe innere Spannung der Geschichte wird meiner Meinung nach aus zwei Quellen gespeist. Zum einen bleibt anfangs im Dunkeln, warum die Familien 70 Jahre lang keinerlei Kontakt hatten. Zum anderen plant Joni detailliert ein gemeinsames Leben mit Nando, ohne nach seinen Wünschen zu fragen. Hier sind seine Gedanken:

 

„...Aber mit einem Sprachkurs ist es keineswegs getan. Nicht, wenn ich dauerhaft in Polen leben müsste. Als Mann der Sprache ließe ich praktisch alles in Deutschland zurück...“

 

Einen weiteren Einfluss haben die komplizierten Beziehungen zwischen den amerikanischen Mitgliedern der Familie. Rebekka, um deren Erbschaft es geht, war Jüdin.

Erwähnenswert sind die verschiedenen Themen, die nebenbei gestreift werden, sei es das Vorgehen auf wirtschaftlichen Gebiet oder die unterschiedlichen Ansichten zu seriösen Journalismus.

Ein Besuch bei Nandos Mutter bringt eine zusätzliche Farbe ins Geschehen. Ihre Einschätzung von Nandos Generation klingt so:

 

„...Ihr seid eine merkwürdige Generation [...] Ihr wollt nie dort sein, wo ihr seid, nie das sein, was ihr seid. Nichts ist genug, nichts ist wirklich schön, nichts ergreift euch voll und ganz...“

 

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen, weil es in die Tiefe geht und unterschwellig fragt, wie man leben will.