Rezension

Verlebte Zeit

Wir holen alles nach - Martina Borger

Wir holen alles nach
von Martina Borger

Bewertet mit 3 Sternen

Unsere Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant entwickelt. Plötzlich sind wir alle vernetzt, teilen unseren Alltag auf Instagram, beziehen unsere News über Facebook, streiten über Twitter und shoppen, zahlen, fotografieren und zählen Schritte mit dem Smartphone. Inhalte verbreiten sich nun viel schneller und auf viel mehr Kanälen als noch vor 20 oder 30 Jahren. Die Gesellschaft beginnt Diversität immer besser anzunehmen, Missstände werden offener thematisiert, Tabus gebrochen. Ungerechtigkeiten, soziale Ungleichheit, Mobbing und Gewalt sind natürlich nicht verschwunden, nur weil wir eventuell darüber reden, aber es wird schwerer mit Scheuklappen durchs Leben zu gehen und auf Zeichen nicht zu reagieren. Weil wir aber Menschen sind, besteht unsere Welt auch weiter aus Schubladen, in die wir Menschen, Begegnungen, Erlebnisse und Träume einordnen. Wir ordnen ein. Wir vergleichen. Wir bewerten. Wir haben Vorurteile. Mit diesen Vorurteilen spielt Martina Borger in ihrem Roman „Wir holen alles nach“. Sie stellt uns die pensionierte Buchhändlerin Ellen vor, die ihre karge Rente mit Zeitungsaustragen und Nachhilfe aufbessert. Einer ihrer Nachhilfeschüler ist der schüchterne Elvis. Seine Mutter Sina ist alleinerziehend, hat aber gerade ihren neuen Freund Torsten bei sich aufgenommen. Torsten hatte ein Alkoholproblem und dadurch seinen Job verloren. Er versucht im Berufsleben wieder Fuß zu fassen und es sieht ganz vielversprechend aus. Dennoch ist es für Sina nicht leicht, in ihrem Fulltimejob genug Zeit für Elvis zu haben und in den Sommerferien hat sie nach der Absage der Ferienreise ihres Ex mit Elvis plötzlich ein Betreuungsproblem. Ellen springt ein und freundet sich mit dem ruhigen Jungen an. Doch nach einem Wochenende verhält sich Elvis anders als sonst und sie entdeckt eine Vielzahl blauer Flecken an ihm. Was ist passiert? Wer hat ihm das angetan? Elvis schweigt und in Ellen beginnt sich ein schrecklicher Verdacht zu regen.

Martina Borger legt die Spur so, dass der Leser unweigerlich Torsten in den Blick nimmt und es entspinnt sich ein unangenehmes Kopfkino mit all den Klischees und Vorurteilen über neue Partner alleinstehender Mütter – zumindest in meinem Kopf. Mir scheint es, als würde es der Autorin genau darum gehen. Indizien stehen im Raum und müssen interpretiert werden, doch jeder bringt seine eigene Sichtweise mit und betrachtet nur einen kleinen Ausschnitt des Gesamtbildes. Sie zeigt das auf einfühlsame Weise an den beteiligten Figuren und führt mich aber auch als Leser vor, denn ich meine mit meiner vermeintlichen Sicht von außen einen besseren Überblick zu haben.

Martina Borger zeichnet zudem ein Bild von Frauen verschiedener Generationen, das mich nachdenklich stimmt. Die prekäre Situation, in der sich Sina befindet, die Job, Geldsorgen, Haushalt und Erziehung jongliert, viel zu wenig Zeit mit Elvis verbringt und gleichzeitig die Sorgen und Befindlichkeiten ihres neuen Partners über ihre eigenen stellt. Ellen, die eigentlich immer mit beiden Beinen fest im Leben stand, auch nachdem ihr Mann früh verstarb und sie die beiden Söhne plötzlich allein durchbringen musste. Zu unbeschwert aber ist sie die Altersvorsorge angegangen und kann nun allein von ihrer Rente nicht leben. Ihr Zuverdienst ist ein wackliges Kartenhaus, das einstürzt, sobald ihre Gesundheit nicht mehr mitspielt. Wir holen alles nach entpuppt sich als ein hohler Spruch, denn verlebte Zeit lässt sich nicht nachholen und Martina Borger hat das sowohl ihren Figuren als auch ihren Lesern deutlich vor Augen geführt.