Rezension

Verlorenes Potenzial durch trockene Erzählweise

Die Welt in allen Farben - Joe Heap

Die Welt in allen Farben
von Joe Heap

Bewertet mit 3 Sternen

--- Kurzinhalt ---

Nova kann von Geburt an nicht sehen. Eines Tages macht sie eine Augenoperation, nach der sie anschließend sehen kann. Doch in dieser Welt, wo das Sehsinn überdimensional mächtig ist, kommt sie monatelang nicht zurecht.

Irgendwann lernt sie Kate kennen, die gleich zu Beginn des Buches einen Sturz hat, der eine Gehirnblutung zur Folge hat. Seither gerät sie ständig in Panik, wird ohnmächtig. Die beiden Frauen freunden sich an und es entsteht zwischen ihnen eine Liebesbeziehung. Doch das Schicksal stellt den Frauen so einige Stolpersteine in Weg.

--- Lesefluss ---

Das Buch startete in der Zeitform Präsenz. Der nächste Satz beschreibt die Zukunft. Kurz danach wurde aber zurückgeschwenkt ins Präteritum, weil kurz etwas aufgegriffen wurde, was zuvor passiert war. Dann gelangte man wieder ins Präsenz, dann wieder ins Präteritum... ehrlich gesagt bin ich bei so vielen Zeitsprüngen leider gleich zu Beginn des Romans ein bisschen ins Stocken gekommen. Diese Zeitsprünge gab es im Buch dann noch ein paar weitere (wenige) Male: die ganze Zeit wird in Präsenz geschrieben und dann schwenkte der Autor zurück zu etwas, was vor nur fünf Minuten geschehen war (aber völlig belanglos ist). Wenn schon Rückblenden, dann doch welche, die weiter zurückgehen, und etwas Interessantes aufdecken. Ich fand diese Zeitsprünge völlig fehl am Platz.

Dadurch, dass der Erzähler allwissend ist und ab und zu einen kleinen Einblick in die Zukunft gibt, kamen natürlich auch Fragen auf und Neugierde wurde geweckt. Ebenso interessant war, dass neben Nova eine Frau namens Kate eine wichtige Rolle zu spielen schien. Immer wieder wurde zwischendurch zu ihrer Geschichte gewechselt und ich fragte mich als Leser, auf welchem schicksalhaften Weg sich Nova und Kate begegnen würden.

--- Zwei Frauen – zwei schwierige Päckchen ---

Nova ist von Geburt an blind, dafür aber sehr eigensinnig, intelligent und kann wahnsinnig gut mit Worten. Sie ist 32 und hat in Oxford studiert (ich war fasziniert davon, wie das vonstatten ging, aber es wurde nicht näher drauf eingegangen). Seither ist sie Dolmetscherin und ihre Welt spiegelt sich größtenteils im Klang der Worte, der Musik und der Geräusche ihrer Umgebung ab. Ich habe sie vom ersten Augenblick gemocht, denn sie hat natürlich eine ganz andere „Sichtweise“ auf die Welt. Doch im Laufe des Buches habe ich immer mehr den Bezug zu ihre verloren.

Daneben gestellt haben wir Kate, eine Architektin, die verheiratet ist, und sich mit ihrem Mann nicht mehr wirklich versteht. Sie macht sich selbst etwas vor, bewegt sich in einem gefährlichen Trott und scheint keinerlei Empfinden dafür zu haben, dass das so eigentlich nicht gut ist. Ihr Mann fängt dann irgendwann auch an sie zu schlagen, aber Kate scheint auch schon sehr abgestumpft zu sein. Zu ihr hatte ich lange keinen Bezug, ich konnte nicht richtig etwas mit ihr anfangen. Sie war so unnahbar, nicht greifbar, irgendwie nur eine Hülle.

--- Was hatte großes Potenzial ---

Von Anfang an weckte der Autor eine Neugierde. Er gab so mancherlei Fragen, die sich auftaten und lange unbeantwortet blieben. Der Autor ließ den Leser eine Weile im Dunkeln tappen, sodass ich richtig zum Weiterlesen animiert wurde, weil ich wissen wollte, was da los ist. (Hielt sich nur bis zu einem gewissen Grad - aber bis dahin war es super.)

Als Nova dann sehen konnte, habe ich gestaunt, wie philosophisch sie mit ihren Sehregeln an die Betrachtung der Welt herangegangen ist. Ich fand diese Sehregeln durchaus interessant und ich habe richtig gespürt, dass es nicht selbstverständlich ist, die Welt zu sehen, wie wir sehen. Dass zu begreifen ist eigentlich eine Meisterleistung, wofür jeder einzelne Mensch von uns dankbar sein kann.

Es wurden weiterhin sensible Themen wie etwa häusliche Gewalt und Homosexualität behandelt. Zwei Frauen, die jeder ihr Päckchen tragen und zusammen stark sein können. Das war an sich ein wunderschöner Gedanke, auch wenn mich die Umsetzung leider nicht überzeugen konnte.

Hin und wieder wurde mit dem Schriftsatz etwas Schönes gestaltet: so taucht am Anfang des Kapitels Neun ein Stern auf, was amüsant war.

--- Warum das Potenzial nicht ausgenutzt wurde ---

Die Protagonistinnen sind ja zwei Frauen und der Autor ist ein Mann – und das habe ich stellenweise gespürt. Denn zum Teil wurden die Emotionen, Empfindungen und Ängste der Protagonistinnen sehr trocken, fast schon wissenschaftlich beschrieben, sodass sie nicht wirklich in mein Herz trafen. Zudem habe ich vielerlei Verhalten und Reaktionen der Frauen oft nicht verstanden, was sie für mich unnahbar gemacht hat.

Auch die Begegnung der beiden Frauen hatte keinen Reiz. Es war wie eine Erzählung, eine Abhandlung, ohne Tiefgang und ohne Herz. Das fand ich sehr schade, denn die Geschichte an sich hatte so viel Potenzial.

Zudem gab es Vergleiche, die mit Sicherheit keine Frau ziehen würde, z.B. »Ein Sturmtrupp ist in ihrem Schädel gelandet.« Und dann wurden die Soldaten und Offiziere mit den Sinnen verglichen – ich kann mir beileibe nicht vorstellen, dass Frauen solche Vergleiche ziehen würden (ich würde es zumindest nicht tun), es sei denn, sie waren selbst bei der Armee. Es gab noch weitere, eher „männliche“ Vergleiche, wo ich einfach gespürt habe, dass es ein Mann ist, der da über Frauen schreibt.

Es gab ständig wahnsinnig große Zeitsprünge, die mich jedes Mal auf Neue überrumpelt haben. Gerade haben Kate und Nova sich kennengelernt, prompt springt der Autor mehrere Monate weiter. Gerade haben Kate und Nova sich geküsst, prompt sind wieder sechs Monate vergangen.

--- Mein Fazit ---

Ich hatte hohe Erwartungen an das Buch, da die Thematik wahnsinnig interessant klang. Ich hoffte, dass mich die Geschichte im Herzen berühren würde können und in mir pure Dankbarkeit für mein Augenlicht vermitteln könnte. Dem war leider nicht so, da ich mit der Trockenheit der beschriebenen Emotionen zu kämpfen hatte. Natürlich zeigt das Buch auf, dass die Welt nicht nur schwarz und weiß ist, sondern, dass es Gutes, wie Schlechtes gibt. Das hat der Autor auch geschafft zu vermitteln, aber der Stil hat mir leider nicht so sehr gefallen.