Rezension

Verlust und Haben

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise
von Jean-Paul Dubois

Bewertet mit 5 Sternen

Montreal, Quebec: Seit etwas mehr als einem Jahr befindet sich Paul Hansen im Bordeaux-Gefängnis. Seine karge Zelle teilt er sich mit dem Hells-Angel-Biker Patrick. Paul hat viel Zeit zum Denken, zieht die Bilanz seines Lebens, erinnert sich an seine Kindheit in Toulouse, wo sein Vater Pastor war und seine Mutter ein Programmkino betrieb, wie es seinen Vater und ihn selbst nach Kanada verschlug. Er erinnert sich an seine geliebte Frau Winona, sein Leben als Hausverwalter im Wohnkomplex Excelsior wo er fast ein Vierteljahrhundert Seele des Hauses war.

Was hat einen Menschen wie Paul, der unauffällig, reflektiert, klug, selbstlos ist, ins Gefängnis gebracht? Dieser Frage geht der französische Schriftsteller Jean-Paul Dubois in seinem Roman „Jeder bewohnt die Welt auf seine Weise“ nach. Dubois erzählt eine Geschichte von Aufbrüchen und Neuanfängen, von Verlust und Haben, eine bemerkenswerte tragicomédie.

In der Haft hat Paul alle Zeit der Welt. Seine Strafe, wofür auch immer er sie erhalten hat, nimmt er widerspruchslos an. Er arrangiert sich mit dem kalten, hinfälligen „Organismus“ Gefängnis mit stählernem Herzen und gefräßigen Eingeweiden. Auf sehr wenigen Quadratmetern, in denen er und sein Mitinsasse nichts Menschliches voreinander verbergen können, erträgt Paul stoisch nicht nur Patricks Verdauungsrituale sondern auch dessen „Geistesgirlanden“

Paul befindet sich in seinen Gedanken, einer verschütteten Welt. Es sind „seine drei Toten“, die ihm wieder ihre Aufwartung machen, sein Vater Johanes, seine Frau Winona, sein Hund Nouk, mit denen Paul durch ein starkes emotionales Band verbunden ist.

„Wir waren beisammen, die Toten und der Lebende, aneinandergeschmiegt, um uns gegenseitig das zu geben, was wir auf grausame Weise vermissten, ein wenig Wärme und Trost.“

Selbstverständlich ist Pauls Erzählstimme nicht objektiv, trotzdem empfinde ich ihn nicht als unzuverlässigen Erzähler. Jedenfalls ist Paul ein sehr akribischer Erzähler. Seinem Vater Johanes würden viele „unnötige aber präzise Notizen“, „Genauigkeit, Richtigkeit und die Nennung von Details“ gefallen, überlegt Paul. Dubois schlägt so gekonnt einen Bogen von einer komplizierten Familiengeschichte zu politischen und gesellschaftlichen Geschehen, zu Skandalfilmen,  zum Raubbau an der kanadischen Natur, zu den Unabhängigkeitsbestrebungen Quebecs. Wenn man Paul als „Mann der Dinge“ verstehen kann, dann versteht man auch die vielen kleinen eingestreuten Details

Erst gegen Schluss des Buchen versteht man auch, was Paul veranlasst hat, zu tun, wofür er verurteilt wurde.

Jeder bewohnt die Welt auf seine Weise, jeder Mensch hat seinen Platz im Leben. Pauls Welt besteht aus Verständnis und uneigennütziger Menschlichkeit, diesen Platz behält er sich auch im Scheitern. Jean-Paul Dubois hat mit diesem Buch viele Saiten in mir zum Klingen gebracht.