Rezension

Vernichtet. Nicht vergessen. Lesespaß trotz schwierigem Thema.

Das Buch der vergessenen Artisten - Vera Buck

Das Buch der vergessenen Artisten
von Vera Buck

Bewertet mit 4 Sternen

Tolle Erzählung, teilweise beschaulich. Teilweise satirisch. Hat einige Längen ja, aber Vera Buck ist eine echte Erzählende.

Vera Buck schreibt im Nachwort: „Das Buch der vergessenen Artisten ist eine Mischung aus akribischer Recherche und augenzwinkernder Flunkerei. Es ist eine Geschichte über den Jahrmarkt und auf dem Jahrmarkt gehen Realität und Lüge immer Hand in Hand.“

Sie bringt es auf den Punkt. Das Problem mit dem zweiten Roman der Erzählerin Vera Buck ist seine Einordnung. Vergleicht man es mit dem Erzähler Daniel Kehlmann, insbesondere dessen historischen Kunstroman „Tyll“ stinkt es gewaltig ab, weil „Tyll“ Kunst ist. Und Buck bisher „nur“ beste Unterhaltung.

Das hieße, mit charmanteren Worten, Frau Buck hat noch einiges zu lernen bis sie an die richtig großen Erzähler heranreicht. Andererseits aber hat sie das Potential dazu, das erkennt man schon auf den ersten Seiten, die am nachhaltigsten und beeindruckendsten sind. Sie kann ganz wunderbar schreiben, und hat das Talent dazu, eine Große zu werden.

Hintenraus gleitet das Buch vom historischen Roman jedoch in eine Art Schelmenroman ab, eine Unglaubwürdigkeit wechselt die andere ab, Bond 007 im NS, fragt man sich, und es ist plötzlich eine augenzwinkernde Satire, wo alle möglichen illustren Gesellschaften ihren Auftritt haben; Agatha Christie begegnet man ebenso wie dem jungen Adolf Hitler, ganz im Sinne des im Nachwort Gesagten.

Doch wenn man den „gewöhnlichen historischen Roman“ zum Vergleich heranzieht, der normalerweise voller mehr oder weniger schwachsinniger Liebeleien steckt und anderen schwülstigen und abgedroschenen Begegebenheiten, dann steigt Vera Bucks Roman „Das Buch der vergessenen Artisten“ hoch in den Schreiberhimmel auf und erringt die Goldmedaille.

Im Detail:
„Das Buch der vergessenene Artisten“ spielt einmal in den Jahren 1935 ff. als Matthis das Buch der vergessenen Artisten erstellt. Er reiste schon als junger Mann als Schausteller durch das Land, das ist die zweite Erzählzeit, 1902 ff, und kam sogar bis in die Schweiz, wo er seine Traumfrau, das Kraftfräulein Meta traf. Und leider auch dessen gewalttätigen schwachsinnigen Bruder Ernsti.

Zur Zeit des Nationalsozialismus haben es alle schwer, besonders aber die, die aus dem Raster fallen, aus dem Bild, das sich die Nazis vom „richtigen deutschen Menschen“ machen. Nach und nach verschwinden die Artisten und Schausteller, die auf dem Berg wohnen. Mathis will es aber nicht hinnehmen, dass auch noch ihr Andenken verschwindet und schreibt die Lebenswege der Artisten auf, die plötzlich, mir nichts, dir nichts, abgeholt werden, oft in Nacht- und Nebelaktionen.

Die Schausteller stören. Sie sind anders und zudem in einer verdächtigen Art und Weise unabhängig. Vera Buck schreibt:

Aber die meisten, die ins Schaustellerleben hineingeboren wurden, waren schon als Kinder nicht lange genug an einem Ort gewesen, um einen Freund zu haben. Einen engen Freund, jemanden, der auch noch da war, wenn der Jahrmarkt längst abgebaut war. Das war wohl der wahre Unterschied zwischen denen, die Hitler verächtlich Zigeuner nannte, und allen anderen. Wer nicht gelernt hatte, sich an etwas zu binden, der band sich auch nicht an den Führer. Der band sich an kein Haus und an keine Ideologie.“

Auch Ernsti verschwindet. Und was mich angeht, hätte Ernsti verschwunden bleiben können, er ist wahrhaftig kein Sympathieträger. Doch Meta setzt alle Hebel in Bewegung, ihren Bruder aufzuspüren und zu befreien.

Die Autorin setzt mit der Figur des Ernsti zwar den Fokus richtig auf die garstigen Methoden, geistig und körperlich Behinderte aus der Gesellschaft zu entfernen, sie als lebensunwert zu foltern und zu töten. Auch ein gewalttätiges und gemeines Ernsti hat eine menschenwürdige Behandlung und Unterbringung verdient, obwohl man auch heute enthemmte Menschen unter Aufsicht stellen muss.

Die Beharrlichlichkeit, mit der die Autorin sich wie dessen Schwester Meta an die Figur des Ernstl klammert, macht aber den Roman in meinen Augen nieder. Besser und glaubhafter wäre es gewesen, diese Figur rechtzeitig zu opfern. Und Trauer und Verlust zuzulassen.

Trauer und Verlust sowie Entsetzen kommen beim Leser nur gedämpft an. Das liegt an dem ironisierenden Schreibstil, den die Autorin gewählt hat und mit dem man durch Überhöhungen das Geschehen ad absurdum führt. Das ist reizvoll und oft geistreich. Nur darf man die Suppe nicht versalzen. Bucks Buch ist von Ironie so durchsetzt wie das Stachelschwein mit Stacheln. Und mit Ironie baut man eben auch Distanz auf. Auch mit Metaphern müsste man, für meinen Geschmack, sparsamer umgehen. Obwohl die Autorin keine einzige versaut, ist es einfach zu viel.

Insgesamt ist Bucks Plot bis weit über die Mitte zu handlungsarm, hält den Leser trotzdem bei der Stange, weil sie so viele erschreckende Details über die Ausgrenzung und die Auswüchse bringt, davon, wie man Menschen und Tiere zum Leiden bringt und kein Mensch darüber nachdenkt. Das heißt, ein paar kritische Stimmen gibt es dann doch, ganz leise. So war es wohl auch damals. Die kritischen Stimmen gab es, aber sie waren zu leise.

Es waren schreckliche Zeiten. Sowohl die um die Jahrhundertwende wie auch die unter dem Nationalsozialismus.

Das große Verdienst Vera Bucks ist indes ihr Thema. Wie bei ihrem ersten Buch "Runa" suchte sie sich ein Thema aus, das ungewöhnlich ist. Reizvoll. Interessant. Historisch. Fast unbeackert. Jedenfalls nicht ausgelutscht. Themen, die sowohl beschrieben wie erzählt gehören. Und sie hätte einen wunderbaren Schreibstil, wenn man ihn um einige Metaphern ausdünnte. Dass sie das Ganze mit 750 Seiten dann doch nicht makellos unter die Füße bringt, sieht man ihr nach. Sie ist noch jung, da ist noch einiges möglich. Lesevergnügen ist auf alle Fälle vorhanden!

Fazit. In Vera Bucks Themen und ihrem Stil liegt ein wahnsinnig großes Potential. Wenn sie sich weiterentwickelt, führt ihr schriftstellerischer Weg weit nach oben.

Kategorie: Beste Unterhaltung: 5 Sterne
Anspruchsvolle Literatur: 3 Sterne
Verlag: Limes bei Random House, 2018