Rezension

Vernünftig sein ist wie tot sein, nur früher

Dschungel - Friedemann Karig

Dschungel
von Friedemann Karig

Bewertet mit 4 Sternen

Auf Seite 37 beginnt auf dem Grundschulhof die „Jugendstrafe“ des Erzählers - lebenslänglich: Er lernt Felix kennen, den extrovertierten, übergriffigen Sonnenschein von einem Draufgänger, in dessen bann und Schatten er stehen wird – bis zur letzten Seite. Felix ist sogar dann noch da, wenn er nicht mehr da ist, sondern in Kambodscha verloren gegangen ist.

Der Erzähler begibt sich auf die Suche nach Felix, der dem Rest der Welt im Backpackermilieu im kambodschanischen Dschungel abhanden gekommen ist, angetrieben von Felix‘ Mutter, um Rückkehr gebeten von seiner Freundin Lea. Rückblenden in die gemeinsame Kindheit und Jugend des Erzählers und Felix‘ verschränken sich mit der Erzählung der Suche, bei der der Erzähler die dünne Spur seines übermächtigen Freundes aufnimmt und sich durch die Hippiekommunen, die blutige Geschichte der Khmer und den Mainstream der weitgereisten Rucksacktouristen wurschtelt.

Schnell ist klar: Der Erzähler hat ein Selbstwertproblem neben Felix: „Wer war dieser Typ? Und wer konnte man an seiner Seite noch sein?“ der Erzähler hat immer alles mitgemacht, war wie ein kleiner Bruder des großen Meinungsmachers, war in dessen Familie und deren Schicksale involviert. Obwohl der Erzähler ein überlegter, nachdenklicher Mensch ist, fasziniert ihn der andere, der Sätze wie diesen prägt: „Vernünftig sein ist wie tot sein, nur früher.“ (S. 290) Felix hat dem Erzähler nie gut getan, wie die vernünftige Lea immer wieder analysiert, aber lösen kann er sich von ihm nicht. Oder doch – jetzt im Dschungel? Auf einer Reise zu Felix, die auch eine Reise ins Ich ist?

Reisen als solches nimmt einen großen Raum ein – Karig wird nicht umsonst auch als Reiseschriftsteller bezeichnet. Dabei ist er ein Kritiker der Sehnsucht, seine Reise an unberührte Orte machen zu wollen, an denen es keine Touristen gibt. Der systemische Fehler dieser Sehnsucht ist ja: Selbst wenn man diesen Ort findet, ist es kein Platz an dem kein Tourist ist, denn den bringt man mit sich selbst ja mit. In starken Passagen des Romans nimmt Karig durch den Erzähler eine Außensicht auf den „alternativen Tourismus“ ein und beschreibt, was an ihm alles falsch läuft; angefangen damit, dass die naturliebenden Aussteiger zunächst mit kerosinschleudern in ihr Paradies geflogen sind und dort mit ihrem Geld, den westlichen Bedürfnissen und einer „Bulimie des Reisens“ (S. 261) die Verhältnisse auf den Kopf stellen: „Wir sind wieder zu Jägern und Sammlern geworden. Aber nicht um zu überleben, sondern um zu erleben.“ (S- 124) Die Reise kann die Leere der Reisenden nicht füllen bzw. das mit Wohlstandsmüll und kaputter Kindheit vollgestopfte Ich nicht retten.

„Dschungel“ hat an manchen Stellen eine solche Geschwindigkeit, dass man beim Lesen durchrauscht. Bisweilen hat mich die Lektüre von Mutproben auf Klippen und über sprudelnden Stauwehren in echte Höhenangst versetzt – das ist eine bemerkenswerte Erzählkunst, die sich im Roman gleichzeitig der Selbstrettung innerhalb unserer schrägen, globalisierten Welt und den scheinbar behüteten Sicherheitszonen widmet, an denen wir uns in Deutschland wähnen. Felix ist das Ultima Thule des Erzählers, der Weg dahin ein Trip an den Rand des Abgrunds.

Die Schlussfolgerung, die Karig am Ende zieht, wenn das Buch seine Handlung abschließt, gefällt mir allerdings nicht. Sie deutet sich früh an, doch laufen dei9 Handlung und ihre Interpretationsmöglichkeiten nicht zwangsläufig auf dieses Ende zu. Bis dahin aber: gelungen.

Gute Reise in den Dschungel!