Rezension

Verrohung der Natur

Der natürliche Lauf der Dinge - Charlotte Wood

Der natürliche Lauf der Dinge
von Charlotte Wood

Bewertet mit 4 Sternen

Das ist ein krasses Buch, das ich wirklich nicht jedem empfehlen kann. Wer noch immer davon träumt, Prinzessin zu sein und von dem Prinzen auf dem weißen Pferd entdeckt zu werden, sollte die Finger davon lassen. Hier gibt es Realismus in seiner brutalsten Form.

Yolanda und Verla sind zwei junge Frauen, die plötzlich drogenbenehmelt in einem Camp in der australischen Wüste erwachen und dort auf acht weitere Frauen treffen, die alle entführt worden sind und sich hier wiederfanden. Das Camp mit einem KZ zu vergleichen ist nicht zu hoch gegriffen: Den Frauen werden die Köpfe geschoren, sie müssen in glühender Hitze aneinandergekettet marschieren, eine Straße bauen und ständig damit rechnen, von den beiden brutalen Wärtern mit einem Knüppel verprügelt zu werden. Sie werden gedemütigt, es wird versucht, ihnen ihre Identität zu nehmen. Sexuelle Übergriffe bleiben nicht aus. Und dann fällt eines Tages der Strom aus - nur der elektrische Zaun ringsum des Camps nicht, da an einen anderen Stromkreis angeschlossen. Plötzlich stehen sie vor dem Verhungern, denn es gibt auch keine Möglichkeit, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen, nicht einmal für die Wärter ...

Eigentlich ist dieses Buch nur durch seine relativ distanzierte Schreibweise zu ertragen, wobei es distanziert auch nicht wirklich trifft, vielleicht sachlich? Die meiste Zeit erfahren wir die Ereignisse aus der Sicht von Verla und Yolanda - wobei dabei auch zwischen Präsens und erzählendem Präteritum gewechselt wird, was das Ganze intensiver macht. Nach und nach sind es nicht nur die brutalen Wärter, die verrohen, sondern auch die Frauen, Schritt für Schritt, Tag für Tag nähern sie sich wilden Tieren an, nur noch auf das reine Überleben bedacht. Gleichzeitig gibt es verschiedene Cope-Mechanismen, um mit der unerträglichen Situation fertig zu werden, und manche geben einfach auf und bringen sich um. Wenn ich etwas an dem Buch zu bemängeln habe, dann dass die Frauen bis zum Schluss nicht versuchten, ihre einzigen beiden Wärter zu überwältigen - ist das realistisch? Zehn Frauen, gequält bis aufs Blut, und die Wärter, die oft genug auch allein bei ihnen sind? Auch dass keine wenigstens versucht hatte, sich unter dem Zaun durchzugraben, fand ich seltsam. Trotzdem ist das ein Buch, das man sacken lassen muss, das sich immer wieder in die Gedanken schleicht, vor allem, weil es auch ein ziemlich offenes Ende gibt, das zwei Fragen aufwirft: Warum wurde mit den Frauen getan, was getan wurde und was könnte noch schlimmer sein als das, wie es am Ende angedeutet wurde?

Kommentare

sphere kommentierte am 20. Juni 2017 um 10:43

Oh, gerade dein letzter Satz baut eine Spannung auf, jetzt möchte ich schon wissen, was da angedeutet wurde... :)

E-möbe kommentierte am 20. Juni 2017 um 17:05

Ja, so sind sie, die Autoren und auch die Rezensenten ... ;)

Ich habe dir mal eine PN geschrieben.

wandagreen kommentierte am 21. Juni 2017 um 18:45

Ihhh, not my cup of tea. (Wie ist dein Schlaf?)

E-möbe kommentierte am 21. Juni 2017 um 20:34

Ich schlafe wie ein Baby. (Wie ein braves Baby, also durch, nicht dieses Alle-zwei-Stunden-aufwachen-und-schreien-Baby.)

Hast du mal "Herr der Fliegen" gelesen, Wanda? Eine ähnliche Thematik, mit Schuljungs, die nach und nach extrem verrohen und wie es dazu kommt.

wandagreen kommentierte am 21. Juni 2017 um 23:44

Hab ich nicht. Aber da gab es mal was mit einem Experiment. Da hat man Leute angewiesen, andere zu quälen und weil das Autoritätspersonen waren, die es befahlen, haben es nur sehr sehr wenige angezweifelt, alle anderen sagten sich: Wieso, man hats doch befohlen. Also typisch deutsch. (Typisch Mensch). Dafür haben wir die Dänen gerade abgezogen. Als Revanche für das tpyisch deutsch ;-).

sphere kommentierte am 22. Juni 2017 um 00:04

Meinst du das Stanford-Prison-Expreriment von 1971? 

US-Experiment (sehr gute deutsche Verfilmung mit M. Bleibtreu).

wandagreen kommentierte am 22. Juni 2017 um 09:03

Das war das Schärfste überhaupt, oder? !!! Ein Wahnsinn. // Dann gabs noch ein anderes, wo Stromschläge verabreicht wurden.

E-möbe kommentierte am 22. Juni 2017 um 11:00

Ja, ihr redet von zwei verschiedenen Experimenten.

Das Stanford-Prison-Experiment war das, wo zwei Gruppen in Wärter und Gefangene eingeteilt wurden, und das man schon nach 6 von geplanten 14 Tagen abbrechen musste, weil die Wärter sich als so übelst sadistisch herausstellten.

Wandas Beispiel war ein Experiment, bei dem Schauspieler so taten, als bekämen sie für falsche Antworten Stromschläge. Die Interviewer, die nicht wussten, dass die Stromschläge gefaked wurden, ließen auf Anweisung von "Autoritätspersonen" die Stromschläge immer schlimmer werden - sie wollten ja nicht, bekamen aber die Befehle dazu. Nur wenige weigerten sich, überhaupt solche Strafen zu verhängen. Krasses Beispiel für Gehorsam.

sphere kommentierte am 22. Juni 2017 um 00:05

Das Buch habe ich bestimmt seit 20 Jahren, aber noch nicht gelesen :( 

Den Film aber schon mind. 2x

lesesafari kommentierte am 21. Juni 2017 um 22:43

Der Fall Bosseborn als Buch? Und das Ganze noch ne Nummer härter?

E-möbe kommentierte am 22. Juni 2017 um 11:03

Ich musste erst mal nachsehen, was du meinst, aber das waren zwar auch Sadisten, aber nicht staatlich sanktioniert. Von daher kaum Überschneidungen.

lesesafari kommentierte am 22. Juni 2017 um 11:23

Achsoooo. Das staatlich Sanktionierte erinnert mich jetzt noch an was anderes, aber da komme ich nicht drauf.

Arbutus kommentierte am 22. Juni 2017 um 13:34

Ich danke Dir für Deinen wunderbaren Einführungssatz, Aacher ("...das ich nicht wirklich jedem empfehlen kann.") Ich werde also tunlichst die Finger davon lassen. Nach dem, was Du schreibst, wird es noch um einiges krasser sein als "Das Experiment" - den Film sah ich einst im Kino, und der war schon heftig, aber immerhin war er nach zwei Stunden vorbei, und außerdem gab's noch "Gute" in der Story, wessen ich mir bei oben beschriebenem Buch nicht so sicher bin. Ich finde die Rezi aber sehr gut. 

 

E-möbe kommentierte am 22. Juni 2017 um 13:53

Dieser Satz war eher für die Prinzessinnen-auf-der-Erbse-Ladys, die sich mit mit als drei Protagonisten überfordert fühlen und eigentlich nichts anderes lesen als "Toller Typ trifft tolle Trulla - endless love, out and over". Sowohl für dich als auch für Wanda müsste das ein interessantes Buch sein. Die "Guten" hier in dem Buch können nämlich nichts dafür, dass sie werden, wie sie werden.

Arbutus kommentierte am 22. Juni 2017 um 17:26

Ich danke Dir für Deine hohe Einschätzung meiner Wenigkeit. Trotzdem glaube ich, eher, dass das Buch im Augenblick zu harte Kost für mich wäre. Aber Deine Alliteration ist wirklich allerliebst. Geht auch gut als Zungenbrecher durch - habe eben mehrere Anläufe gebraucht, um das fehlerfrei zu sprechen!

Warum bedanke ich mich eigentlich heute dauernd? Muss am Wetter liegen... : )

E-möbe kommentierte am 22. Juni 2017 um 18:32

You made my day - und stimmt, die Alliteration ist fast so kompliziert wie Fischers Fritze.