Rezension

Verschrobene Verhältnisse

Fünf Kopeken - Sarah Stricker

Fünf Kopeken
von Sarah Stricker

Bewertet mit 4 Sternen

Annas Mutter ist schwer krebskrank und wird nicht mehr lange leben. Ein Anlass für Anna, als Besucherin der Kranken die Familiengeschichte zu durchleben. Für die Tochter wird dies die letzte Gelegenheit sein, noch etwas aus ihrer Familiengeschichte zu erfahren. Die Patientin, immer nur "meine Mutter" genannt, ist schwierig und abweisend gegenüber der Erzählerin. Die Großeltern führten eine für die damalige Zeit durchschnittliche Ehe nach preussischen Werten, der Großvater ein Patriarch alter Schule, unbeherrscht und schlitzohrig, mit einer Frau, die in dieser konventionellen Beziehung völlig aufgeht und keine eigene Meinung hat. Im Vergleich zu ihm als Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs, der die russische Kriegsgefangenschaft überlebt hat, können alle anderen aus der Sicht des Großvaters nur Schwächlinge sein. Der Aufstieg des Schneiderschen Textilgeschäfts folgt dem Wirtschaftsaufsschwung der Nachkriegsjahre. Die einzige Tochter wird behütet, kontrolliert, im Klammergriff der Familie gehalten; sie flüchtet vor den Menschen in die Welt der Wissenschaft. Schließlich wird sie Medizinerin, um als Kopfmensch den eigenen Körper zu besiegen und zu beherrschen. Ein Exkurs führt die Schneiders als Wende-Profiteure nach Berlin, wo Oskars Frau aus Vorkriegszeiten noch eine Immobilie besitzt. Man könnte es beinahe als Verhöhnung des Vaters sehen, dass seine Tochter sich in einen mittellosen ukrainischen Juden verliebt und in dieser Beziehung - endlich einmal - hemmungslos über die Stränge schlägt. An Ende schließt sich der Kreis mit der Erkenntnis, dass bei Schneiders der Apfel nicht weit vom Stamm gefallen ist und "meine Mutter" ihrem Vater in ihren nervigen Eigenschaften verblüffend ähnelt.

Sarah Strickers fulminanter Familienroman erzählt die deutsche Nachkriegsgeschichte bis in die Wendezeit in neuer, erfrischend respektloser Tonlage. Die Nüchternheit der Tochter und Enkeltochter als Berichterstatterin lässt einem dabei oft das Schmunzeln über Oskar und seine Sippe im Hals stecken bleiben. Ein Ton, mit dem man den Prozess des Zähneputzens beschreiben würde, kann in emotionaleren Situationen recht makaber klingen.