Rezension

*+* Verstörend, empfindsam, mitreißend *+*

Neue finnische Grammatik - Diego Marani

Neue finnische Grammatik
von Diego Marani

Bewertet mit 4 Sternen

*+* Zu meinem Blogbeitrag "bebildert und in Farbe" geht es hier entlang:
http://irveliest.wordpress.com/2014/11/05/diego-marani-neue-finnische-gr... *+*

Liebe Lesefreunde,
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Stellt euch vor, ihr kommt auf der Krankenstation eines Lazarett-Schiffs zu euch.
Warum ihr dort seid, wisst ihr nicht. Eine riesige Wunde hat euch schlimme Verletzungen im Bereich des Nackens und des Hinterkopfes zugefügt.
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Nicht nur äußerliche Wunden….
Denn auch innerlich ist nichts mehr so wie es einmal war, denn ihr wisst nicht mehr, wer ihr seid, könnt nicht mehr sprechen. Auch das Schreiben gelingt nicht, denn euer Sprachzentrum ist gestört, sodass ihr zwar theoretisch noch schreiben könntet, praktisch jedoch nicht, da ihr keine Worte mehr kennt…..
Soweit die Ausgangslage, die mir schon ganz schön zu schaffen gemacht hat…
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Was wäre, wenn ich in diesem Zustand wäre?
Ganz ohne Worte. Ich könnte nicht sprechen. Ich könnte niemanden verstehen. Ich könnte nicht lesen.
Mir lief es sehr eiskalt den Rücken hinunter.
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Dazu kommt die fehlende Identität des in diesem Roman Verunfallten.
Er weiß nicht mehr seinen Namen, weiß nicht, woher er kommt und warum er überhaupt an dieser Stelle der Welt ist.
Was wäre, wenn ich nicht mehr wüsste, wer ich bin?
Namenslos. Heimatlos. Erinnerungslos. Gäbe es mich überhaupt noch?
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Der arme Mann hat Glück – wie ich über eine lange Zeitspanne dachte – denn auf dem Lazerettschiff wird er von Dr. Petri Friari behandelt. Der gute Mann ist Finne, war aber schon sehr lange nicht mehr in seiner Heimat. Umso erfreuter ist er, als er sieht, dass in der Jacke seines Patienten der Name „Sampo Karjalainen“ eingestickt ist. Er freut sich, glaubt er sich, in Sampo einen Landsmann gefunden zu haben.
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Als der Arzt merkt, dass das Sprachzentrum des Mannes zerstört wurde, widmet er sich ihm mit voller Hingabe. Er übt mit Sampo wann immer es sein Dienst zulässt, um seinem Patienten den Zugang zur Muttersprache wiederzufinden.
Macht Sprachübungen mit ihm, gibt ihm Literatur, hofft darauf, dass das Gehirn des Mannes in der Lage sein wird, zu kompensieren und zu improvisieren.
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„Ich lauschte dem Singen neben mir und beneidete diese Münder so voller Worte.“
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Nach und nach beginnt der Verletzte, sich besser zu fühlen. Dankbar nimmt er den Unterricht des Arztes an, ist selbst hoch motiviert, um wieder zu sich zu finden.
Was wäre, wenn ich in dieser Situation wäre?
Könnte ich mich so einfach in mein Schicksal finden? Käme ich damit klar, trotz des massiven Inputs nichts in mir zu entdecken, was mich an meine Vergangenheit erinnert?
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Denn so ist es bei Sampo. Selbst als das Lazarett-Schiff von der afrikanischen Küste zurück nach Helsinki fährt, um Kriegsverletze in die Heimat zu bringen, verspürt er keinerlei „Aha-Effekt“.
Ziellos irrt er ein Stück weit durch sein Leben.
Eckt mal hier an. Mal dort. Bleibt schließlich am Militärkaplan Olaf Koskela hängen, der sich seiner annimmt.
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„Doch nach und nach grub sich die finnische Sprache, wenn auch noch unbefestigt, ein Bett in den Treibsand meines Geistes.“
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Auch Olaf tut alles, damit Sampo den Finnen in sich entdeckt. Übt mehr als intensiv die finnische Sprache mit ihm, thematisiert Finnland in vielen Bereichen und erreicht…..nichts bei Sampo.
Was wäre, wenn ich so erfolglos in einem anonymen Leben gefangen wäre? Ich einfach kein Bein an den Boden kriegen würde? Instinktiv spürte, dass ich trotz aller Bemühungen dort falsch bin, wo ich bin. Dass dies einfach nicht mein altes Leben sein kann….oder doch?
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Auch als Sampo sich in Helsinki zu seiner Krankenschwester hingezogen fühlt, empfindet er nur beunruhigende Leere.
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Wer ist man, wenn man ein Niemand ist? Kann man jemals wieder zu Jemand werden?
Auch als Sampo nach einiger Zeit die finnische Sprache beherrscht, ist er weiterhin eine Hülle. Nicht mehr ganz so leer wie zuvor, denn nun strömen finnische Worte, Sätze, Gedanken durch ihn.
Sonst ist da aber immer noch nichts. Ich spürte die Hoffnung des Mannes, der sich nun endlich ausdrücken und mit anderen in ebenbürtigen Kontakt treten konnte, auf eine positive Entwicklung für seine Zukunft.
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„Ich war Schnee und fürchtete mich nicht mehr davor, dahinzuschmelzen, mich als Rinnsal ins Meer zu verlieren und mich dem unaufhaltsamen Gärungsprozess aller Dinge anheimzugeben, die sich ewig verwandeln und nie sterben.“
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Jedoch ist das Leben oft anders als erhofft und so nimmt des Mannes Schicksal erneut eine dramatische Wendung….
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Dieser Roman wird seinem Titel gerecht, denn zwischenzeitlich wird es sehr finnisch, was mich aber nicht störte, zumal diese massive Thematisierung notwendig ist, um Sampo wieder zu seiner vermeintlichen Identität zu führen.
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Sprachlich sehr einfühlsam und eindringlich hat mich dieser Roman sehr tief berührt und die nachdenklichen Saiten in mir zum Schwingen gebracht.
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„Eine gelernte Sprache ist nichts anderes als eine Maske, eine geliehene Identität.“
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Sehr berührt hat es mich, die verschiedenen Ebenen von Sampos Einsamkeit zu erleben und zu fühlen, was mir stellenweise ein verzweifeltes Schaudern über den Rücken jagte. Das Schicksal des Mannes zerriss mir fast das Herz, ebenso wie seine stoische, gleichmütige Tapferkeit, mit der er sein Schicksal ertrug.
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“Neue Finnische Grammatik” von Diego Marani ist unter der ISBN-Nr. 13 9783862200412 bei den Ullstein Buchverlagen erschienen. Es umfasst 256 Seiten und ist auch als Ebook erhältlich.

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