Rezension

Versuch einer Aufarbeitung der eigenen Persönlichkeit

Frau im Dunkeln - Elena Ferrante

Frau im Dunkeln
von Elena Ferrante

In diesem Roman geht es um Leda, die allein in einem italienischen Badeort Urlaub macht. Sie hat ihr Leben bislang gut gemeistert, so scheint es. Sie lehrt an einer Universität und hat zwei erwachsene Töchter. Sie hat sich aus ihrer Ehe befreit, als die Enge der Familie ihr zu sehr zusetzte. Somit tritt sie selbstbewusst und emanzipiert auf.
Am Strand fällt ihr eine neapolitanische Familie auf, und sie beginnt deren soziale Beziehungen zu studieren. Da es sich um einen Familienclan handelt, gibt es einiges zu beobachten. Besonders eine junge Frau und ihre kleine Tochter wecken Ledas Interesse. Zunächst ist sie den beiden wohlgesonnen, beobachtet die Probleme in der Mutter-Kind-Beziehung und fühlt sich an eigene Erlebnisse mit ihren Kindern in der Vergangenheit erinnert. Jedoch entwickelt sich die Sympathie bald zu Neid, denn sie beobachtet ein sehr intensives Verhältnis zwischen Mutter und Kind, das sie nie zu ihren Töchtern hatte und vielleicht auch nie haben wollte. Sie erinnert sich an Erlebnisse mit ihren Töchtern, die keineswegs harmonisch waren, und ist so frustriert, dass sie aus niederen Beweggründen etwas sehr Gemeines macht, das für die neapolitanische Familie ein Drama bedeutet.
Das Buch zeigt uns die Zerrissenheit einer Frau, die gleichzeitig eine Familie betreut und Karriere machen möchte. Sie ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu ihren Kindern sowie dem Wunsch, sich ihnen zu widmen, und auf der anderen Seite dem Streben nach Selbstverwirklichung im Beruf, aber auch im Privatleben. Die Situationen, an die Leda sich erinnert, sind für mich sehr authentisch und haben mich an so manches in meinem eigenen Leben erinnert. Ich bekam dadurch viele Impulse zur Reflektion.
Sie beobachtet die junge Mutter am Strand und ihr warmherziges und vertrauensvolles Spiel mit ihrer kleinen Tochter. Für Leda entwickelt sich die bittere Erkenntnis, dass sie ihren Töchtern keine liebevolle Mutter war. Und noch etwas erkennt sie: dass auch sie selbst als Kind nicht in Geborgenheit aufwuchs. Kann nur ein Mensch, der in Liebe und Zuwendung aufwuchs, diese auch später weitergeben? Dies sind grundsätzliche Fragen, auf die es vermutlich keine klaren Antworten gibt.
Leda ist sicher keine sympathische Protagonistin, denn sie hat deutlich wahrnehmbare  Charakterschwächen, aber diese Schwächen sind sehr authentisch beschrieben, und in der einen oder anderen Schwäche kann sich sicherlich jeder wiedererkennen.
Der Schreibstil der Autorin hat mich sehr beeindruckt, denn sie bleibt nicht an der Oberfläche, sondern beleuchtet bis in tiefste emotionale Schichten die Persönlichkeit dieser auf den ersten Blick perfekten Frau. Es ist sicher nicht mein letztes Buch von Frau Ferrante.
Das Cover hätte etwas mehr abgestimmt werden können, so dass das Bild der Dominanz des Familienclans am Strand besser abgebildet würde, aber das ist nur eine Kleinigkeit. Insgesamt hat mich das Buch sehr beeindruckt, mich zum Nachdenken angeregt und bleibende Gefühle hinterlassen. Eine eindeutige Empfehlung für Leser mit Vorliebe für tiefgründige Literatur.