Rezension

Verwöhnt, verliebt, verlassen - verdammt interessant!

Über uns der Himmel, unter uns das Meer
von Jojo Moyes

1946 macht sich der Flugzeugträger Victoria mit sechshundert Frauen an Bord auf den Weg von Australien nach England. Die Frauen, allesamt Kriegsbräute, werden zu ihren Ehemännern geschifft - ehemalige Soldaten, die sie nach einer meist überstürzten Heimat schon lange nicht mehr gesehen haben. Unter ihnen ist auch Frances, eine verschlossene, schweigsame junge Frau. Denn sie trägt ein Geheimnis mit sich und eine dunkle Vergangenheit, die sie auf dieser Reise endgültg hinter sich lassen will. Nicht leicht auf einem Schiff voller verwöhnter, verliebter Tratschweiber. Zum Glück kann sie zu Marineoffizier Henry Nicol ein wenig Vertrauen fassen - aber dieses Vertrauen ist sehr zerbrechlich... 

Vornweg: das Schiff Victoria sowie die groben Umstände der Reise haben tatsächlich wie beschrieben existiert; Vorlage für die Romanidee war die Geschichte Großeltern der Autorin. Wieviel davon noch in den Geschichten der reisenden Mädchen steckt, wird aber nicht verraten; im Vorwort wird aber betont, dass es sich um "fiktive Personen" handelt. 

Anfangs hatte ich ein paar Anlaufschwierigkeiten, das Buch startet in der Gegenwart und im ersten, recht langen Kapitel ist erst nicht ersichtlich, was die dort erzählte Story mit dem eigentlichen Buch zu tun haben soll. Eine alte Dame mit ihrer Enkelin in Indien? Das klärt sich dann aber auf - ob der Vorlauf nun nötig war, sei dahin gestellt; auch erinnert diese Gegenwarts-Rahmenhandlung ein wenig an Titanic oder andere Werke, in denen die Haupthandlung durch die Erinnerungen einer inzwischen alten Frau vorgestellt wird. Also nicht sehr originell, aber das muss ja auch nicht immer sein. 

Als es dann, nach einigen weiteren Kapiteln, in denen die handelnden Hauptpersonen vorgestellt werden, endlich auf das Schiff geht, nimmt die Geschichte dann Fahrt auf und es wird wirklich interessant. Vor jedem neuen Kapitel bekommt der Leser einen Auszug aus damaligen Zeitungen, wie der Wine, Women and War oder Tagebucheinträgen von Matrosen zu lesen, welche die damaligen Umstände auf teilweise sehr amüsante Weise untermauern und die Geschichte realitätsnaher machen; einige Zitate standen jedoch ohne jedem Zusammenhang zum Kapitel, was manchmal etwas irritierend war. Ich kenne diese Zitat-Idee schon aus einigen Romanen, und dort hatten sie immer einen Bezug zu den jeweiligen Geschehnissen. 

Die Hauptpersonen sind vier Mädchen, die sich eine Kabine teilen: die hochschwangere Maggie (Margaret), die reiche und verwöhnte Avice, die wilde, etwas unflätige Jean und natürlich Frances. Bis auf Frances erfahren wir über jedes Mädchen schon vor der Fahrt eine Menge, bis aus Frances' Sicht erzählt wird, vergehen aber fast mehr als 100 Seiten. Da ist der Klappentext etwas irreführend - Fakt ist, dass Frances weit weniger aktiv vorkommt als die anderen Mädchen. Nebenbei werden immer wieder Gedanken vom Kapitän oder Henry Nicol sowie diverse Erinnerungen und Briefwechsel der Bräute eingeworfen. 

Man könnte meinen, die Beschreibung einer solchen Überfahrt könnte langweilig geraten, aber mit so vielen Mädels an Bord wird es nie langweilig. Wenn man bedenkt, dass all die manchmal etwas bizarren oder auch traurigen Wendungen hunderten von Mädchen so widerfahren sind, wird das Buch noch einmal viel interessanter. Mädchen bekommen plötzlich auf hoher See ein Telegramm, dass sie doch "unerwünscht" sind und müssen wieder zurück in die Heimat, Zickenkriege werden ausgetragen, Soldaten und Mädchen kommen einander zu nah, es gibt kleine und große Dramen... 

Die Hauptpersonen sind in drei großen "Frauentypen" angelehnt: die Natürliche, Vernünftige (Maggie), die Überhebliche, Überzeugte (Avice) und die Ausgelassene, Lebensfreudige (Jean). Auch wieder nicht sehr originell, aber da ist für jeden was dabei, und die Figurenzeichnung ist wirklich sehr liebevoll gelungen - auf Avice ist man irgendwann einfach nur noch sauer, und trotzdem muss man über ihre Naivität doch lachen. 

Fazit: 3,5 Sterne für eine mitreißende, realitätsnahe und dadurch unglaublich interessante Geschichte, die ein wenig von 08/15-Schemen durchzogen ist und einige Ungreimtheiten aufweist, trotzdem aber ein gutes Gefühl hinterlässt.