Rezension

Viel mehr als nur Horror

Doctor Sleep - Stephen King

Doctor Sleep
von Stephen King

Bewertet mit 4 Sternen

Man vergleicht eine Fortsetzung wohl zwangsläufig mit dem Original. Das ist wie mit dem Lieblingsgericht. Was schmeckt, möchte man beim nächsten Mal bitteschön genau SO wieder serviert bekommen. Wenn man mit dieser Einstellung an "Doctor Sleep", den Nachfolger von "Shining" herangeht, wird man höchstwahrscheinlich enttäuscht.

Das Buch ist völlig anders. In vielerlei Hinsicht sogar das passgenaue Gegenstück. Während Jack Torrance in „Shining“ von seinen inneren Dämonen zerfressen, in einen alkoholumnebelten Gewaltrausch abgleitet, vollzieht sich die Entwicklung in „Doctor Sleep“ umgekehrt: Jacks inzwischen erwachsener Sohn Dan, der natürlich (wie könnte es anders sein?) ebenfalls zum Alkoholiker wird, überwindet seine Sucht und schafft über die Konfrontation mit seinen Ängsten den Sprung zurück in die Gemeinschaft.

Klingt nun nicht gerade nach Horrorstory. Eher nach Selbstfindungstrip. Ist es auch. Aber nicht nur. Ein Schuss King-Wahnsinn ist natürlich mit drin. Und gerade zum Ende hin wird die Geschichte extrem spannend. Der Teil davor erzählt hauptsächlich von Dans Weg in und aus dem Alkoholsumpf. Und von seiner Arbeit in einem Hospiz, wo er Sterbenden mithilfe seines Shinings (dem zweiten Gesicht) den Übergang ins Jenseits erleichtert. Das ist teilweise (wie immer) etwas redundant und weitschweifig, ja. Und ob man die zweite wichtige Hauptfigur, Abra Stone, nun unbedingt beginnend mit deren Geburt (!) in die Handlung einführen muss, darüber lässt sich streiten.

Langweilig wird es trotzdem nicht. Dazu schreibt King mit zuviel Lebensweisheit, Empathie, unerwartet viel Humor und bewegend-persönlicher Alkohol-Erfahrung. Viele, sehr viele Zeilen darf man wohl als großes Dankeschön an die AA verstehen. Auch wenn man sich zugunsten der Dichte hätte kürzer fassen können.

Nachdem sich der zweite Handlungsstrang eine ganze Weile fast nebenbei anbahnt, zieht King am Ende nochmal alle Register, indem er die inzwischen 12-jährige Abra und Dan Torrance auf den Wahren Knoten treffen lässt. So nennt sich ein Haufen hochgefährlicher Mörder, angeführt von Rose the Hat, die es auf Kinder mit dem Shining abgesehen haben. Shining-Vampire gewissermaßen, die ihre Opfer solange foltern, bis der Steam, die übersinnliche Veranlagung, freigesetzt wird. Denn das ist ihre Nahrung. Und Abra soll der Hauptgang sein. (Anm.: Unappetitliche Details werden dem Leser erspart!)

King arbeitet im Finale viel mit Informationslücken, curiosity gaps, die eine hohe Spannung erzeugen, indem Dinge immer wieder nur angedeutet werden. Die Möglichkeiten des Shinings werden dabei grandios ausgereizt. Auf die geplante Verfilmung darf man zurecht gespannt sein!

Insgesamt betrachtet ist „Doctor Sleep“ vielleicht nicht DIE Horrorgeschichte, die viele von einem Stephen King erwarten würden. Im direkten Vergleich mit „Shining“ fehlt ein Jack Torrance, der den Leser über seine charismatische Ambivalenz einfängt. Das kann eine an Selbstherrlichkeit kaum zu übertreffende, aber zu berechenbare Antagonistin wie Rose the Hat nicht ausgleichen. Trotz allem ist es eine richtig gute Geschichte, die einer bemerkenswerten Logik folgt, in der alles miteinander zusammenhängt und ausbalanciert wird.

"Shining" muss man nicht, sollte man zum besseren Verständnis aber gelesen haben.

Noch zwei Worte zur Umsetzung des Audio-Books: David Nathan! Angenehm-unaufdringlich, einfühlsam-intensiv. Ein toller Sprecher!