Rezension

Viel Philosophieren und Diskutieren - zu Lasten der Spannung und Charaktere

Frankensteins Erben - Jens-Ulrich Davids

Frankensteins Erben
von Jens-Ulrich Davids

Für Perikles „Peh“ Krause steht alles auf dem Spiel: Dem Dozenten der Universität in Oldenburg wird nicht nur endlich eine Festanstellung in Aussicht gestellt, sondern auch die Junior-Professur in einem neu einzurichtenden Studiengang in Darstellendem Spiel. Doch was auf den ersten Blick nach einem tollen Fortschritt in der Karriere des bislang beruflich wie privat wenig erfolgreichen Mittvierzigern wirkt, erweist sich für Peh als Alles-oder-Nichts-Auftrag. Denn Peh bekommt die neue Position nur, wenn er bis zum Sommer des kommenden Jahres mit einer Gruppe Studenten ein Theaterstück auf die Beine gestellt hat, dass die Uni-Belegschaft durchweg begeistert – gelingt das nicht, kann Peh seine Sachen packen und sich für immer von der Uni Oldenburg verabschieden. Zwar hat Peh schon einige Erfahrungen als Leiter der Uni-Theatergruppe gesammelt, doch würde nichts, was er bisher inszenierte, den Anforderungen des Uni-Präsendenten und des Dozentenkollegiums genügen, denn die wünschen sich für das nun entscheidende Theaterstück etwas, das klassisch ist, aber auch modern, das auf einem Roman basiert, gesellschaftlich und politisch hoch aktuell und brisant ist, das aber auch zeitlos ist und unterhält, etwas, das Religion, aber auch Naturwissenschaften aufgreift, das dieses hat und jenes tut … Dank seines Freundes Ronald wird Peh bewusst, dass Mary Shelleys „Frankenstein“ den schier endlosen Anforderungen der Uni-Kollegen gerecht werden würde. Doch der Weg der Inszenierung ist steinig: Schauspieler und Möchtegern-Revoluzzer Anton bremst die Gruppe regelmäßig aus; seine Freundin Tamar verdreht Peh den Kopf, inszeniert sich am liebsten selbst und spielt ihre eigene Spielchen mit dem vor sexueller Anziehung geblendeten Peh. Und dann ist Peh selbst sein größtes Problem, denn der Theatergruppenleiter verfügt über keinerlei Durchsetzungsvermögen, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen; er lebt und agiert auf fast schon phlegmatische Weise passiv – keine guten Voraussetzungen angesichts des Drucks lastet.

Nein, ein wirklicher Romanheld ist unser Protagonis Peh wahrlich nicht und so manches Mal möchte man ihm einen kleinen Stoß in die richtige Richtung geben, ihm den Kopf waschen – was auch schon Pehs bester Freund Ronald auf erfrischend direkte und schonungslose Art regelmäßig erledigt. Vor allem wenn es um Tamar geht, strapaziert Peh leicht die Geduld des Leser. Während er sie für seine Muse hält und sich nur allzu bereit auf ihre Flirtereien einlässt, merkt er nicht, wie sie seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit ausnutzt und lediglich mit seinen Gefühlen (und seiner Libido) spielt. Sie genießt es, wie er sie anhimmelt, und kostest es aus, Macht über ihn zu haben. Und Peh, der arme Tropf, realisiert es nicht, ja, er macht sich sogar Hoffnungen auf eine gemeinsame Beziehung. Als Leserin möchte man eingreifen und dem ewigen Junggesellen die Augen öffnen. Da das aber leider nicht möglich ist, ärgert man sich wieder und wieder über so viel Naivität – aber auch darüber, dass „Frankensteins Erben“ als Roman mit Schwerpunkt auf Theater und Kunst nicht ohne das ausgelutschte Klischee der Affären zwischen Lehrbeauftragtem und Studentin auskommt.

Denn mit Ausnahme dieser unnötigen Liaison ist „Frankensteins Erben“ wirklich ein außergewöhnlicher Roman. Passend zur Theaterthematik ist die Handlung in fünf Akte untergliedert und die Szenenein- und -ausstiege kommen zuweilen sehr filmhaft daher: Vor allem die Wechsel zu Pehs Telefonaten mit seinem Vater und den abendlichen Gesprächen mit Kumpel Ronald erfolgen rasch und ohne großes Vorgeplänkel; es gibt keine einleitenden Worte zu Ort oder Zeit, sondern der Leser steigt wie ein Besucher einfach mitten in ihre Unterhaltungen ein. Das ist gerade zu Beginn im Kontrast zu den kunst- und theaterwissenschaftlichen Erörterungen der Studenten sehr erfrischend.

Letzteres ließ mich während des Lesens immer etwas zwiespältig zurück. Jens-Ulrich Davids gibt viele Einblicke in die theaterpädagogische Praxis, die sich wohl doch sehr von dem unterscheiden dürfte, wie sich Nicht-Theatermenschen eine Stückentwicklung vorstellen, und die mich an meine eigenen Theaterprojekte während des Bachelorstudiums erinnerten. Auch hat der Autor Fragestellungen und Themen aus Kunst und Theater gut mit der Gesellschaft und dem Privatleben der Charaktere verknüpft. Allerdings wurde Davids hier oft zu ausschweifend. Selbst ich, die über theaterwissenschaftlichen Hintergrund verfügt, konnte nicht immer allen Gedankengängen und Gesprächsverläufen folgen, weshalb ich mir vorstellen kann, dass es Leser ohne Vorwissen oder besonderem Interesse an Kunst und Theater schwer haben dürften, dem ständigen, ausufernden fachlichen bzw. philosophischen Diskurs der Charaktere nachzuvollziehen. Hinzu kommt, dass der Autor in den Diskursen seiner Figuren häufig den Fokus verliert – viele Themen und Fragestellungen werden wieder und wieder aufgegriffen, führen aber nie zu Ergebnissen, sodass sich der Inhalt ständig im Kreis dreht und unnötige Längen entstehen. An anderern Stellen springen die Charaktere von einer Thematik zur nächsten, ohne dabei auch nur ein Thema wirklich abgeschlossen zu haben. Ich konnte mich daher nicht des Eindrucks erwehren, dass Jens-Ulrich Davids mit seinem Roman sehr viel gewollt hatte, es aber für diese Geschichte und den Umfang des Buches einfach zu viel war. Der Autor greift spannende Fragen und Problematiken auf, die sich aber in ihrem Bemühen um Aufmerksamkeit und Aufrütteln der Leserschaft gegenseitig ausbooten.

Dieser starke Fokus auf gesellschaftliche und theater- bzw. kunsttheoretische Themen ist darüber hinaus auch zu Lasten der Charaktere gegangen. Nicht nur erscheinen manche Verhaltensweisen wenig nachvollziehbar – beispielsweise warum Anton weiter in der Theatergruppe spielt, wenn er das alles doch für sinnlos und Kinderkram hält -, auch bleibt der überwiegende Teil der Theatergruppe eine graue Masse ohne Individuen. Dabei haben manche Charaktere durchaus Potenzial, wie sich zum Beispiel bei Lönsi zeigt, der zum Ende hin nicht nur greifbarer und sympathischer wird, sondern auch eine nicht unwichtige Rolle in Pehs Weiterentwicklung spielt. An Pehs Vater, dem Davids eine sehr individuelle Note gegeben und außergewöhnliche Eigenheiten zugeschrieben hat, zeigt sich zudem, dass der Autor durchaus vielschichtige und im Gedächtnis bleibende Figuren schaffen kann. Schade, dass nicht alle Charaktere so gut ausgearbeitet wurden wie Pehs Vater.

Die Stärke von „Frankensteins Erben“ liegt indes in der Auseinandersetzung mit Mary Shelleys Klassiker. Die Erörterungen und Recherchen der Studenten zu „Frankenstein“ hat Jens-Ulrich Davids spannend, authentisch und vielseitig geschildert und weckt damit die Lust, Shelleys Roman zu lesen. Perfekt abgerundet wird dies durch mysteriöse Auftritte des Geists der Mary Shelley. In diesen Szenen lässt Davids seine Leser „Frankenstein“ durch die Augen seiner Schöpferin sehen und stellt die Frage, inwieweit das Bild, das die Mehrheit von einem Klassiker oder dessen Autor hat, bzw. wie Literaturwissenschaftler und Lehrer die Klassiker interpretieren, tatsächlich der Wirklichkeit entspricht.

Fazit:

Wer für das Theater brennt und leidenschaftlich gern theater- oder kunstwissenschaftliche Diskussionen führt, der wird Jens-Ulrich Davids „Frankensteins Erben“ lieben. Andere Leser dürften aber wohl Schwierigkeiten haben, den Diskursen der Charaktere zu folgen, werden aber nach der Lektüre des Romans voller Neugier an Mary Shelleys berühmtes Werk herangehen.