Rezension

Vielleicht DAS Kinderbuch von 2021

Vincent und das Großartigste Hotel der Welt -

Vincent und das Großartigste Hotel der Welt
von Lisa Nicol

Bewertet mit 4.5 Sternen

Der elfjährige Vincent, Protagonist und im wahrsten Sinne Held dieses literarischen Abenteuers, lebt in Barry, der wohl langweiligsten und gewöhnlichsten Kleinstadt der Welt. Gemeinsam mit zwei jüngeren Geschwistern und den Eltern lebt er in bescheidenen Verhältnissen – der Vater arbeitet wie die meisten Einwohner Barrys in der örtlichen Katzenfutterfabrik. Dass die teuren Therapien für Vincents kleinen Bruder Thom, der mit vier Jahren immer noch nicht spricht und dessen Wutanfälle nur durch klassische Musik beruhigt werden können, nicht anschlagen, trägt weder zum Familienfrieden, noch zu einem gut gefüllten Geldbeutel der Familie bei.

Da trifft es sich gut, dass Vincent die alte Schuhputzkiste seines Großvaters erbt und nun in der Lage ist, mit Schuheputzen zum Familienunterhalt beizutragen. Schon am ersten Tag seiner neuen Arbeit wird er von Florence Wainwright-Cunningham entdeckt, Erbin und derzeitige Geschäftsführerin des Großartigsten Hotels der Wert. Dieses befindet sich am Stadtrand von Barry und ist das einzig Besondere in der Gegend.

Von Vincents Schuhputzkünsten begeistert, engagiert ihn die ebenfalls elfjährige Florence kurzerhand als offiziellen Hotel-Schuhputzer. Dieser nimmt das Jobangebot sofort an, denn er war noch nie im Hotel, das seinen großartigen Ruf völlig zu Recht tragen soll...

 

Schon auf den ersten Seiten des Buches sprüht die Geschichte um Vincent und Florence nicht nur vor Fantasie und witzigen Einfällen, zumindest die erwachsene Leserin stellt sich auch viele Fragen, die zum Teil unbeantwortet bleiben. Um es vorwegzunehmen: Die Autorin schafft in ihrem knapp 250 Seiten starken Werk eine herrlich detailreiche Welt, die von den sympathischsten Charakteren bevölkert wird, die man sich nur vorstellen kann. Doch auch viele jüngere Leser*innen werden sich bei der Lektüre fragen, warum die beiden elfjährigen Kinder völlig selbstverständlich arbeiten (müssen), anstatt in die Schule zu gehen und Freizeit zu haben. Diese Frage wird im Buch weder gestellt noch aufgeklärt, was zu einer der wenigen Schwächen der Handlung gehört.

 

Ansonsten macht die Geschichte einfach Spaß. Besonders die fast verschwenderischen Beschreibungen der vielen Großartigkeiten des gleichnamigen Hotels lösen nicht nur Gelächter aus, sondern lassen die Leser*innen auch von ihrem eigenen Aufenthalt im Hotel träumen. Vor allem die vielen Tiere auf dem Hotelgelände haben mir beim Lesen Spaß gemacht: Elefanten, Giraffen, Faultiere und zahlreiche andere Arten streifen frei über die Ländereien um das riesige Hotel. In der Lobby servieren hundegroße Ponys den Gästen Getränke und Knabbereien. Und alle Gäste und Hotelangestellte erhalten während ihres Aufenthalts einen eigenen kleinen Taschenhund: Diese niedlichen Tierchen passen in die Jackentasche und können vom temporären Frauchen oder Herrchen überallhin mitgenommen werden. Vincent, der vor seinem Arbeitseinsatz als Schuhputzer eine Nacht als Gast im Hotel verbringen darf, schläft im Taschenhunde-Zimmer und teilt sich sein Bett mit Dutzenden der kleinen Haustiere.

Dieses Zimmer ist nur einer von vielen Räumen, die den Aufenthalt im Großartigsten Hotel der Welt so einzigartig machen. Da gibt es, um nur einige zu nennen, das Hüpfburg- und das Achterbahnzimmer, kulinarische Zimmer, deren Möbel aus Schokolade bestehen oder in denen zu jeder Tageszeit eine frische Portion Pommes bereitsteht – aber auch das Spiegel-der-Zukunft-Zimmer, um das sich ein großes Geheimnis zu spinnen scheint.

 

Was Vincent in diesem Zimmer erlebt und zu welchen Konsequenzen dies führt, darüber sollen die Leser*innen sich selbst ein Urteil bilden. Spätestens mit seinem nicht ganz legalen Vordringen in dieses Zimmer wird klar, dass es bei „Vincent und das Großartigste Hotel der Welt“ um mehr als ein drolliges Hotel mit witzigen menschlichen und tierischen Bewohnern geht. Die Autorin widmet sich in kindgerechter Art und Weise ernsten Themen wie Krankheit und Behinderung, Diskriminierung von „Anderen“ oder dem Stress, den das moderne Arbeitsleben für viele Erwachsene und Familien bedeutet.

Ein Aufenthalt oder Job im Großartigsten Hotel der Welt schützt niemanden vor den Unbilden des Lebens. Aber gleichzeitig kann sich niemand dem Charme und der Heilkraft dieser Unterkunft entziehen, der einmal eingecheckt hat. Und eines sei dann doch vorweggenommen: Natürlich endet diese vor lustigen Ideen nur so sprühende Geschichte für alle ab zehn Jahren mit einem Happy End für Vincent, seine Familie und seine neu gewonnenen Freunde im Großartigsten Hotel der Welt.