Rezension

Vielschichtig, philosophisch, bildgewaltig...

Alles Licht, das wir nicht sehen
von Anthony Doerr

Bewertet mit 4.5 Sternen

In seinem Roman erzählt Anthony Doerr kenntnisreich und in einer wunderschönen Sprache, kunstvoll miteinander verwoben, die Geschichte zweier Jugendlicher im Zweiten Weltkrieg, der blinden Marie-Laure, die mit ihrem Vater aus dem besetzten Paris nach Saint-Malo flieht, und des jungen Waisen Werner, der in der Wehrmacht eingesetzt wird. Unaufhaltsam treibt die Geschichte sie aufeinander zu, spannend, labyrinthisch und atemlos.

2015 bekam dieses Buch den Pulitzer-Preis für Literatur zugesprochen, was beinahe logisch war, da Anthony Doerr mit "All the Light We Cannot See" in den USA einen überragenden Erfolg gefeiert hat. Doch auch hierzulande hat es der Roman auf die Bestsellerlisten geschafft - und zahlreiche positive Rezensionen haben mich letztlich neugierig werden und zum Buch greifen lassen.

Die Erzählung spielt im Wesentlichen auf drei Ebenen zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten. So erhält der Leser Gelegenheit, die beiden Hauptcharaktere - das französiche Mädchen Marie-Laure LeBlanc sowie den deutschen Jungen Werner Hausner - kennenzulernen und von Kindesbeinen an ab 1934 in ihrer Jugend zu begleiten. Das wundervolle ist: Kindern steht die Welt offen, ungezählte Möglichkeiten bieten sich ihnen, nichts ist undenkbar. "Was du alles sein könntest", ist dementsprechend ein Satz, der in diesem Roman immer wiederkehrt. Doch die Lebensbedingungen und die Umstände der Zeit lassen die Zahl Möglichkeiten rasch schwinden, führen auf eine Spur, die keine Rücksicht nimmt auf Träume, Wünsche, Talente - und Werte. Marie-Laure und Werner wachsen zu einer Zeit auf, in der Hitler in Deutschland die Macht ergreift und geraten schließlich auch in die Wirren des Zweiten Weltkrieges.

Marie-Laure erblindet im Alter von sechs Jahren und lebt mit ihrem Vater in Paris. Dieser arbeitet im 'Muséum National d'Histoire Naturelle', wohin er seine kleine Tochter häufig mitnimmt. Um ihren Orientierungssinn zu schärfen, unternimmt der Vater mit Marie-Laure tägliche Spaziergänge durch das Pariser Viertel, in dem sie wohnen und fordert das Mädchen stets von einem anderen Startpunkt aus auf, nach Hause zurückzufinden. Aus anfänglicher Verzweiflung wird zunehmende Sicherheit, so dass sich Marie-Laure schließlich kaum noch hilflos fühlt. Auch sonst bemüht sich der Vater sehr darum, seine Tochter in Welten einzuführen, die ihr ansonsten womöglich verschlossen blieben. So erkundet sie ganze Abteilungen in dem Museum, wobei es ihr vor allem die Muscheln und Schnecken angetan haben, die sie erstasten kann. An Geburtstagen hat das Mädchen knifflige Rätsel zu lösen, und immer wieder einmal gibt es ein neues Buch von Jules Verne in Blindenschrift. Als Paris von den Deutschen besetzt wird, flieht der Vater mit Marie-Laure in die Bretagne nach Saint-Malo, zu einem kauzigen Onkel, der in der Stadt am Meer ein großes Haus bewohnt. Mit sich führt der Vater den wohl kostbarsten Schatz des Museums: einen wertvollen, sagenumwobenen Edelstein, das 'Meer der Flammen'.

"Das Gehirn ist natürlich in völlige Dunkelheit eingeschlossen, Kinder. Es treibt in klarer Flüssigkeit im Inneren des Schädels, nie im Licht. Und doch leuchtet die Welt, die es in unseren Gedanken schafft. Sie fließt über mit Farbe und Bewegung. Und wie, Kinder, erschafft uns das Gehirn, das ohne einen Funken Licht lebt, diese helle, strahlende Welt? (...) Öffnet eure Augen und seht was ihr sehen könnt, bevor sie sich für immer schließen."

Werner lebt mit seiner jüngeren Schwester in einem kleinen Waisenheim im Ruhrgebiet, nachdem sein Vater beim Bergbau verschüttet wurde. Durch ihre französische Erzieherin lernen die beiden Kinder auch etwas Französisch, wodurch sie Radiosendungen verfolgen können, auf die sie eines Tages zufällig auf ihrem selbstgebauten Weltempfänger stoßen. Die wissenschaftlichen Sendungen, kindgerecht aufbereitet, wecken bei Werner die Neugierde. In einem Notizbuch sammelt er Fragen über die Welt, von denen er sich eines Tages erhofft, die Antworten zu finden. Neben der Neugierde zeichnet Werner aber auch eine außerordentliche Intelligenz aus und ein technisches Talent, das sich in der Nachbarschaft herumzusprechen beginnt. Schließlich wird ein hochrangiger Nationalsozialist auf den Jungen aufmerksam - und verschafft ihm einen Platz in Schulpforta, ein Internatsgymnasium zur Förderung Begabter. Dort werden allerdings nicht nur Talente gefördert, sondern auch nationalsozialistisches Gedankengut gehegt und eingeimpft. Werner gerät in eine Maschinerie, die er nicht aufzuhalten vermag, und selbst als er der Schule durch einen vorzeitigen Eintritt in eine Spezialeinheit der Wehrmacht  entkommen kann, entflieht er damit nicht der gnadenlosen Ideologie. Feindsender von Widerstandskämpfern sollen von ihm und seiner Einheit aufgespürt werden - in Russland, Polen, Österreich und schließlich: in Saint Malo in Frankreich.

Während der Leser Marie-Laure und Werner in den Jahren ihres Heranwachsens begleitet, gibt es einen dritten Erzählstrang, der 1944 in Saint-Malo spielt. In eben dem Ort, in dem Marie-Laure nach wie vor lebt und in dem ihr Onkel mit einem Sender die Résistance mit Daten versorgt. Und in demselben Ort, in den Werners Einheit schließlich vorgedrungen ist, um eben jenen Sender ausfindig und die Betreiber unschädlich zu machen. Als die Bomber der Alliierten im August 1944 über Saint-Malo auftauchen, ist Werner noch genau fünf Straßen von Marie-Laure entfernt...

Eine vielschichtig und kunstvoll gewobene Erzählung präsentiert Anthony Doerr hier. Perspektiven, Zeitebenen, Themen unterschiedlichster Art wechseln einander ab, ohne dass es wie ein unangemessener Bruch wirkt und ohne dass ein Detail unpassend dominiert: ein Kaleidoskop kleiner Momentaufnahmen. Wie die Wellen des Meeres überlagert dabei jede Bewegung der Erzählung das vorherige - und doch sind die Schichten darunter nur überdeckt, nicht aber verschwunden. Alles ist miteinander verwoben, und jeder Erzählstrang steuert schließlich auf das Geschehen 1944 in Saint-Malo zu, wo Lebenswege sich kreuzen - wie und auf welche Art auch immer.

Bildgewaltig kommt die Erzählung daher, philosophisch durchzogen der Text, poetisch oftmals die Sprache. Auch wenn sich der Roman viel Zeit lässt beim Erzählen, sorgen die vielschichtige Handlung, die komplexe Entwicklung der Charaktere sowie die realitätsnahen Beschreibungen des Kriegsalltags mit authentischem Zeitkolorit  trotz einiger Längen dafür, die Spannung aufrechtzuerhalten und lassen den Leser neben all der Brutalität und den Schrecken auch Oasen der Menschlichkeit erleben. Ein kleines Licht in dunkler Zeit.

Beeindruckend.

© Parden