Rezension

Vielversprechende Grundidee, großartiges Setting, aber leider auch viel verschwendetes Potential!

Das Dorf der toten Seelen - Camilla Sten

Das Dorf der toten Seelen
von Camilla Sten

~ „Das Dorf der toten Seelen“ beginnt stark, doch leider gelingt es der Autorin im Laufe der Geschichte immer weniger, das Potential ihrer vielversprechenden Idee und ihres großartigen Settings zu nutzen. Camilla Stens Debüt ist ein kurzweiliger Thriller mit Stärken (Atmosphäre, unheimliche Szenen, flüssiger Schreibstil, besonderes Setting), aber auch Schwächen (Protagonistin, schwächerer Mittelteil, fehlende Spannung, frühe Auflösung, Klischees). Ich kann weder eine Leseempfehlung aussprechen noch möchte ich euch vom Buch abraten – wenn ihr Lust auf eine Reise nach Silvertjärn habt, gebt der Geschichte doch eine Chance – aber geht nicht (wie ich) mit zu hohen Erwartungen an sie heran. ~

Inhalt

Alice, eine Universitätsabsolventin, hat es satt, sich mit Aushilfsjobs durchzuschlagen und beschließt, sich ihren Traum, eine Dokumentation über die Geisterstadt Silvertjärn zu drehen, zu erfüllen. Dort sind vor ca. 60 Jahren über 900 EinwohnerInnen spurlos verschwunden. Was ist damals geschehen? Alice fährt mit einem kleinen Filmteam ins Dorf, um dort einige Tage zu recherchieren. Mit dem vorläufigen Filmmaterial soll ein Trailer erstellt werden, um Sponsoren zu gewinnen, damit die Dokumentation im Herbst gedreht werden kann. Doch als Alice und ihr Team in Silvertjärn ankommen, scheinen dort seltsame Dinge zu passieren…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz
Tiere im Buch:  + Es werden im Buch keine Tiere verletzt, gequält oder getötet. Zwei Mitglieder leben sogar vegetarisch, weswegen keine der Malzeiten Fleisch enthält.
Triggerwarnung: Tod von Menschen, psychische Krankheiten (Depression, Psychose), Selbstverletzung, Suizid, sex. Missbrauch, Behinderung, Erbrechen

Warum dieses Buch?

Der Klappentext klang so spannend und unheimlich, dass ich nicht widerstehen konnte!

Meine Meinung

Einstieg (5 Lilien ♥)

„Die Miene seines Kollegen zeigte eine Mischung aus Entsetzen und Ekel.
‚Was in Gottes Namen ist hier passiert?‘“ E-Book, Position 67

Nie ist mir der Einstieg in eine Geschichte leichter gefallen als bei diesem Buch. Der Thriller beginnt unheimlich stark mit einem Gänsehaut-Prolog und einer spannenden Projektbeschreibung. Man will sofort weiterlesen und die Geheimnisse des Dorfes ergründen!

Schreibstil (4 Lilien)

Ich mag den Schreibstil von Camilla Sten. Er ist einfach, schnörkellos, anschaulich und flüssig lesbar. Für einen kurzweiligen Thriller ist die Sprache also perfekt geeignet, auch wenn ich mir manchmal noch etwas mehr Tiefe gewünscht hätte. Achtung: Auch blutige und brutale Szenen werden detailliert beschrieben, weshalb das Buch für sensible Seelen nur bedingt geeignet ist.

Idee, Inhalt, Themen & Ende (3 Lilien)

„Silvertjärn ist eine ehemalige Bergarbeitersiedlung in Mittelnorrland, die seit 1959 so gut wie unberührt geblieben ist. Damals verschwanden sämtliche der rund 900 Einwohner unter ungeklärten Umständen.“ E-Book, Position 74

Durch unscheinbare Cover wäre ich beinahe nicht auf das Buch aufmerksam geworden. Doch der Klappentext ließ meine Erwartungen in die Höhe schnellen. Schließlich hatte die Grundidee unheimlich viel Potential! Ein abgeschiedenes Dörfchen, 900 verschwundene Menschen und ein kleines Filmteam, das sich auf die Spuren der Verschwundenen begibt – das klingt doch nach einem atemlos spannenden, großartigen Thriller, oder?

Die Geschichte wird auf drei Zeitebenen erzählt: Wir begleiteten abwechselnd Alice und ihr Filmteam in der Gegenwart und ihre Urgroßmutter Elsa im Jahre 1959. Zusätzlich lesen wir Briefe aus Silvertjärn. Obwohl ich Rückblenden oft skeptisch begegne, habe ich sie hier sogar lieber gelesen als die Handlung in der Gegenwart. Themen wie Freundschaft, Lebensträume, Ehrgeiz, die eigene Familiengeschichte und Geheimnisse stehen im Mittelpunkt des Thrillers. Diese Aspekte werden meist mit angemessener Tiefe behandelt. Auch das Thema „psychische Krankheiten“ wird im Buch angesprochen – ich bin unschlüssig, was ich davon halten soll, da die Ausarbeitung (eine Frau mit Psychose wird als eine Art „Monster“ inszeniert!) meiner Meinung nach das Stigma, unter dem Betroffene leiden, in gewisser Weise fördert.

Das Buch startet stark und vielversprechend, doch leider gelingt es der Autorin im Laufe der Geschichte immer weniger, das Potential ihrer Idee und ihres besonderen Settings zu nutzen. „Ewig schade!“, würde man hier in Österreich sagen. Statt sich auf die unheimlichen Vorkommnisse in Silvertjärn zu konzentrieren, verliert sich die Geschichte vor allem im schwächeren Mittelteil immer wieder in gruppeninternen Spannungen und Problemen. Zudem gibt es meiner Meinung nach viel zu früh Hinweise darauf, was damals passiert ist, sodass das Mitraten wegfällt und viele Wendungen nicht mehr überraschend können. Dadurch gehen die unheimliche Grundstimmung und die Spannung immer wieder verloren. Leider konnte mich die Geschichte, die mir manchmal etwas zu konstruiert und klischeehaft war, auch emotional nicht so packen, wie ich mir das gewünscht hätte. Gelegentliche Wiederholungen und die Tatsache, dass manche Aspekte nie aufgelöst werden (was ist z. B. mit den Hunden und Katzen geschehen?), haben mich ebenfalls gestört. Man merkt diesem Thriller doch an, dass es sich hier um einen Erstling handelt. Das Ende (mit seiner unerwarteten Wendung) hat mir gefallen, auch wenn ich mir noch einen Epilog gewünscht hätte.

Protagonistin (2,5 Lilien) & Figuren (3 Lilien)

Mit ihren Figuren konnte mich Camilla Sten nur bedingt überzeugen. Mit Alice, der Protagonistin, bin ich bis zum Schluss leider nicht richtig warm geworden. Dazu war sie mir einfach nicht sympathisch genug. Ich empfand sie teilweise als sehr egozentrisch, empfindlich und gereizt. Ständig sieht sie ihre Autorität untergraben, ist beleidigt und gibt schnippische Antworten, was nach einer Weile sehr anstrengend wird. Außerdem konnte ich ihre Gedanken, ihre Vorwürfe anderen (besonders Emmy) gegenüber und Handlungen oft nicht nachvollziehen und manchmal nur den Kopf schütteln. Wie kann man z. B. während der Nachtwache einschlafen, wenn man weiß, dass das Lebensgefahr bedeutet? Da stehe ich doch sofort auf und bewege mich, wenn ich merke, dass ich müde werde!

Auch die anderen Figuren sind leider nur teilweise gelungen. Manche von ihnen sind gut ausgearbeitet und überzeugen, andere wirkten auf mich blass und klischeehaft. Insgesamt werden sie mir wohl leider nicht lange in Erinnerung bleiben.

Spannung (3 Lilien) & Atmosphäre (3 Lilien)

„Als ich die Straßen entlanglaufe, an den Häusern vorbei, habe ich das Gefühl, als wäre jedes Haus eine Falle, jede offene Tür ein weit aufgerissener Schlund, als wollte das Dorf uns verschlingen.“ E-Book, Position 4376

Auch was Spannung und Atmosphäre betrifft, wurde leider viel Potential verschenkt: Die Geschichte beginnt unheimlich stark, doch der schwächere, spannungsarme Mittelteil zieht sich teilweise sehr, was ich schade fand. Mehr Tempo und einige Kürzungen hätten dem Thriller mit Sicherheit gutgetan. Punktuell gibt es zwar atemlos spannende, atmosphärische Momente und unheimliche Szenen, die eine Gänsehaut verursachen und schon fast in Richtung Horror gehen – doch insgesamt weiß  die Autorin das großartige (!) Setting leider nicht richtig zu nutzen.

Feministischer Blickwinkel (5 Lilien ♥)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Hu++

Zumindest was diesen Aspekt betrifft, hat die Autorin fast alles richtig gemacht. Bei anderen AutorInnen hätte das Filmteam wahrscheinlich nur aus Männern mit maximal einer Frau bestanden, hier ist das jedoch anders. Man merkt, dass die Autorin eine überzeugte Feministin ist, was ich toll finde! Das Buch besteht problemlos den Bechdel-Test und enthält zahlreiche starke, mutige und intelligente weibliche Figuren, die das Kommando haben und sehr durchsetzungsstark sind. Auch gibt es im Buch kaum Geschlechterstereotypen und toxische Männlichkeit, sondern Männer und Frauen wechseln sich beim Kochen ab und helfen beim Heben von schweren Gegenständen zusammen. Das alles hat mir sehr gut gefallen! Da verzeihe ich auch die traditionelle Rollenverteilung in der Vergangenheit (das ist leider authentisch!) und dieses eine „Hu++“. Etwas schade fand ich es nur, dass dieses Klischee vom besten Freund, der sich für seine Dienste eigentlich eine Gegenleistung in Form von Sex/Beziehung erwartet, im Buch vorkommt. Warum können nicht ein Mann und eine Frau einfach mal ohne Hintergedanken Freunde sein? 

Mein Fazit

„Das Dorf der toten Seelen“ beginnt stark, doch leider gelingt es der Autorin im Laufe der Geschichte immer weniger, das Potential ihrer vielversprechenden Idee und ihres großartigen Settings zu nutzen. Camilla Stens Debüt ist ein kurzweiliger Thriller mit Stärken (Atmosphäre, unheimliche Szenen, flüssiger Schreibstil, besonderes Setting), aber auch Schwächen (Protagonistin, schwächerer Mittelteil, fehlende Spannung, frühe Auflösung, Klischees). Ich kann weder eine Leseempfehlung aussprechen noch möchte ich euch vom Buch abraten – wenn ihr Lust auf eine Reise nach Silvertjärn habt, gebt der Geschichte doch eine Chance – aber geht nicht (wie ich) mit zu hohen Erwartungen an sie heran.

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Lilien
Umsetzung: 3 Lilien
Worldbuilding: 4 Lilien
Einstieg: 5 Lilien ♥
Ende / Auflösung: 3 Lilien
Schreibstil: 4 Lilien
Protagonistin: 2,5 Lilien
Figuren: 3 Lilien
Spannung: 3 Lilien
Atmosphäre: 3 Lilien
Emotionale Involviertheit: 3 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 5 Lilien ♥

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir drei Lilien!