Rezension

Vielversprechender Auftakt, der Vorfreude auf mehr macht!

Die Chroniken der Verbliebenen - Der Kuss der Lüge - Mary E. Pearson

Die Chroniken der Verbliebenen - Der Kuss der Lüge
von Mary E. Pearson

"Erzähl mir noch einmal davon, Ama. Erzähl mir von dem Licht. [...] Es war einmal eine Prinzessin, mein Kind, die war nicht größer als du. Die ganze Welt lag ihr zu Füßen. Ein Befehl von ihr, und das Licht gehorchte. Ein Wink von ihr, und Sonne, Mond und Sterne fielen auf die Knie und erhoben sich wieder. Es war einmal..."

Es war einmal eine Prinzessin und ihr Name war Lia...
Doch was dem Leser gleich zu Beginn klar wird: Sie ist keine Prinzessin, die das Licht oder die Gestirne befiehlt, geschweige denn, dass sie sich wie eine Prinzessin benimmt oder überhaupt eine sein möchte. Und genau damit gewinnt sie den Leser gleich von der ersten Seite an.
Mary E. Perarson hat mit "Der Kuss der Lüge", dem ersten Band ihrer "Chronik der Verbliebenen"-Serie, einen soliden Auftakt abgeliefet, der sich bruchlos in die Reihe der Fantasy-Jugendromane einreihen kann. 
Die Geschichte entspinnt sich um Lia, eigentlich Arabella Celestine Idris Jezelia, Erste Tochter und Prinzessin von Morrighan, die am Tag ihrer arrangierten Hochzeit mit dem Thronerben des (verfeindeten) Dalbreck all ihre Würden und Ehren über Bord wirft und mit ihrer besten Freundin Paulina türmt, um endlich ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. In Terravin heuert sie als Kellnerin an und lernt erstmals die Freuden, aber auch Anstrengungen des einfachen Lebens kennen - auch die der Liebe, nämlich als die beiden Fremden Kaden und Rafe in dem Wirtshaus auftauchen und ebenso viel Interessa an Lia zu haben scheinen, wie sie an ihnen.

In typischer Jugendroman-Manier drehen sich die ersten 2/3 des Romans stark um Lia und ihre Gefühlswelt: Zu Beginn, weil sie mit dem Zwang ihrer Geburt hadert, der arrangierten Ehe, der sie sich nicht fügen will, aber auch aufgrund der widerstreitenden Empfindungen, der Sehnsucht nach ihrer Familie, vor allem ihren Brüdern, dem schlechten Gewissen und dem erfüllenden Gefühl, völlig zwang- und etikettenlos in den Tag hinein zu leben. Später dann, weil sie endlich die Liebe bzw. das Gefühl des Verliebtseins kennenlernt. Rafe und Kaden verdrehen ihr von Anfang an den Kopf, jeder auf seine ganz eigene Art und Weise - wobei ziemlich schnell und eindeutig klar wird, wen von beiden Lia bevorzugt. Vor allem im zweiten Drittel wird die Geschichte aufgrund dessen recht langatmig.
Lia ist jedoch eine ziemlich selbst- und verantwortungsbewusste, starke junge Frau, die einen unbeugsamen Willen und eine ziemlich große Klappe hat. Ihr Wille, das einfache Leben mit all seinen Anstrengungen zu meistern, machen sie äußerst sympathisch ebenso wie ihren unbeschwerten Umgang mit Paulina, der sie in jeder schwierigen Situation zur Seite steht. Überhaupt stechen fast alle Frauenfiguren des Romans mit bemerkenswerter Stärke, Nächstenliebe und Treue hevor.

Einen Rest Spannung erhält sich der Roman aber dadurch, dass vereinzelt immer mal wieder Infos zur Geschichte des Volkes und des Landes eingestreut werden, sodass die Romanwelt nach und nach immer mehr Gestalt annimmt. Aber außerdem auch dadurch, dass ziemlich schnell klar wird: Rafe und Kaden sind nicht zufällig in Terravin aufgetaucht, denn einer von ihnen ist der zurückgewiesene Prinz, der andere ein Auftragsmörder, allerdings nicht der einzige, der auf Lia aufgrund ihrer Flucht und deren Umstände angesetzt wurde. Der Leser erfährt jedoch nicht, wer wer ist. Die Autorin versteht es geschickt, Hinweise und (falsche) Fährten auszulegen, sodass man sich bis zum Zeitpunkt der Enthüllung nicht hundertprozentig sicher sein kann.

Das letzte Drittel des Romans kann sich dann vor rasanter Action kaum retten. Die Story schreitet Schlag auf Schlag immer schneller voran, die Figuren, nicht nur Lia, gewinnen immer mehr an Tiefe, ebenso wie die Hinweise auf die Geschichte der Romanwelt - ohne, dass auch nur eines der vielen Geheimnisse und Rästel so richtig gelöst werden. 
So endet denn der Roman auch mit einem zeimlich gemeinen Cliffhanger, der einen sensüchtig auf den Folgeband warten lässt.

Summa sumarum ist der Auftaktband ein solider Fantasy-Jugendroman, der an vielen Stellen zu überzeugen weiß, bisher jedoch mit recht wenigen Fantasy-Elementen auskommen muss (von der fiktiven Welt und dem Verweis auf eine ominöse Gabe einmal abgesehen).
Wer kein Freund von Dreiecks-Gefühlschaos ist, der sollte es sich zweimal überlegen, ob er wirklich in diesen Roman eintauchen möchte, denn zumindest der erste Band wird davond deutlich dominiert. Wer damit hingegen gut leben kann oder genau davon immer gern eine ordentliche Portion begrüßt, der macht mit "Der Kuss der Lüge" alles richtig. Der Roman überzeugt mit einem spannenden Verwirrspiel in Bezug auf die Frage: Wer ist der Prinz und wer der Attentäter, sowie sympathischen Figuren und einer interessanten Romanwelt, die zu erkunden meine ganz besondere Lesefreude dargestellt hat.