Rezension

Volkskrankheit Depressionen und warum uns Antidepressiva nicht helfen

Der Welt nicht mehr verbunden - Johann Hari

Der Welt nicht mehr verbunden
von Johann Hari

Bewertet mit 4 Sternen

>>Wer glaubt, dass seine Depressionen ausschließlich einer Fehlfunktion seines Gehirns geschuldet sind, muss nicht über sein Leben oder die Dinge, die ihm angetan wurden, nachdenken. Die Ansicht, es sei alles eine Frage der Biologie, schützt ihn in gewisser Weise für eine Weile.>>
Wie kann es sein, dass eine Krankheit wie Depressionen so überproportional zugenommen hat? Deutschland belegt nach einer Umfrage mittlerweile den 2. Platz direkt nach Island. Es werden 1,4 Milliarden (die Zahl muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen) Tagesdosen Antidepressiva pro Jahr verschrieben. 
Hat das wirklich eine rein biologische Ursache, den sogenannten Serotoninmangel im Gehirn, der ganz einfach mit Medikamenten behandelt werden kann? Das jedenfalls wird uns von den Ärzten und der Pharmaindustrie seit Jahrzehnten so vermittelt. Doch was ist mit all den anderen Faktoren im Leben der Betroffenen; das Umfeld, der Job, soziale Bindungen, Kindheitstrauma und und und? 
Johann Hari, selbst Betroffener, geht dieser Sache akribisch auf den Grund, denn irgendwann wurde ihm nur allzu deutlich bewusst, dass er nach jahrelanger Einnahme verschiedenster Antidepressiva incl. all ihrer Nebenwirkungen, trotzdem immer noch an Depressionen litt. 
Nach einer interessanten und sehr persönlichen Einführung widmet er sich ausgiebig der Frage, an was es den Betroffenen wirklich mangelt und den neun Ursachen von Depressionen und Ängsten. Dabei präsentiert er vorhandene Studien und Forschungsergebnisse auf eine, auch für den Laien, sehr verständliche Art und Weise. Man könnte jetzt meinen, trockener Stoff, aber weit gefehlt; sehr lebendig, authentisch, interessant und wissenschaftlich fundiert (die Fussnoten finden sich im 41-seitigen Anhang). 
Johann Hari hat nicht einfach nur Bücher gewälzt, dafür ist er zu sehr Journalist. Nein, er hat sich mit den forschenden Sozialwissenschaftlern getroffen. Auch, wenn er dafür beispielsweise mit Isabel Behncke den Tunnel Mountain besteigen musste. Und das macht das Buch so interessant, denn hier bekommt man die Denkweise eines Depressiven, nämlich die des Autors, der sich wieder mit der Natur verbinden soll, hautnah mit. 
Im nächsten Teil geht es dann um das Wiederverbinden. Johann Hari ist um die Welt gereist und hat sich andere Kulturkreise angeschaut, wie z.B. in Kambodscha oder einer Amisch Gemeinde, wo man keine Antidepressiva kennt (in Kambodscha gibt es nicht einmal ein Wort dafür). In ihrer Gesellschaft wird ganz anders mit verursachenden Situationen umgegangen. Das fand ich unheimlich spannend, auch weil es tief in die Abgründe unserer Kultur blicken lässt. 
Man spürt einfach in jedem Satz, dass hier wahnsinnig viel Herzblut drin steckt. Deswegen verzeiht man ihm auch, wenn er manchmal vielleicht ein wenig zu sehr ausschweift oder Dinge, die ihm wichtig sind und die er verdeutlichen will, wiederholt.
Ein wenig gefehlt hat mir ein Zusammenhang mit der Ernährung, die Verbundenheit des Darms mit dem Gehirn usw. Allerdings kann man auch nicht alles fundiert abdecken. 

Ich selber gehöre nicht zu den Betroffenen, sehe aber in meinem Umfeld immer mehr Erkrankungen und halte nichts von dem schnell verschriebenen Antidepressivum. Deswegen gefällt mir der Ansatz von Johann Hari. Im Gegenzug hat er mir nämlich auch aufgezeigt, warum ich derzeit nicht zu den Betroffenen gehöre. Und so fiel es mir beim Lesen relativ leicht seinen Überlegungen zu folgen.
Fazit: Dieses Buch ist kein Ratgeber der klassischen Art und auch kein Wundermittel. Aber wer sich mit seiner Krankheit bewusst auseinandersetzen und sie vor allem verstehen möchte, dem kann ich es nur ans Herz legen. Wissen und Verstehen allein genügt nicht und jeder weiß, es ist so schon schwer genug, Lebensgewohnheiten zu ändern und dann noch aus einer Depression heraus.... aber Wissen und Verstehen ist ein sehr guter Anfang.