Rezension

Vom Ende einer Ost-Berliner Kindheit in den 90ern

Am Rand der Dächer - Lorenz Just

Am Rand der Dächer
von Lorenz Just

Bewertet mit 4.5 Sternen

Andrej wächst mit zwei Brüdern und seinem besten Freund Simon im Ost-Berlin der 90er auf. Die Jungen streifen - weitgehend frei von der Kontrolle Erwachsener - durch Hinterhöfe und vorbei an grasüberwuchertem Brachgelände. Miteinander verbundene Dächer und Dachböden sind ihr Spielplatz. Von dort oben lässt sich die Veränderung eines Stadtviertes verfolgen, in dem bisher Mietshäuser 50 Jahre lang unrenoviert verwitterten. Renovierte Hausfassaden erobern nun das Viertel, Farbe verdrängt grauen Putz. Baugerüste erweitern zunächst den Zugang zu neuen Abenteuern während der Renovierungsarbeiten. Die Wege über die Dachböden von Nachbarhäusern sind plötzlich unterbrochen von ausgebauten Dachgeschossen; Leute, die hier einziehen, haben offenbar viel Geld. Aus der Vogelperspektive blicken die Jungen durch Dachfenster in feudale Lofts, Dachgauben wurden zu Balkons ausgebaut, die oberen Stockwerke sind unerwartet auch für Erwachsene wertvoll geworden.

Freundschaft, Streit unter Brüdern, Streiche Jugendlicher, die nah am Rand der Kriminalität balancieren, Andrejs erste Liebe Annika, diese Stichworte könnten nach einem Coming-of-Age-Roman klingen. Für westdeutsche Leser verblüffend wirkt die Übernahme einer Generation durch US-Amerikanische Filme und Werte, etwas das Andrej von seinen älteren Brüdern unterscheidet. Sein Jahrgang wird vom Schüleraustauch mit den USA träumen und verdrängen, dass die Einschusslöcher in Berliner Häuserfassaden nicht von amerikanischen Helden stammen.  Die äußerlichen Veränderungen seines Kiezes durch Hausbesetzer und Haubesitzer nimmt der Junge zunächst nur wahr, wo sie seine kindlichen Abenteuer betreffen. Folgen der Gentrifizierung - auch für seine Familie - werden ihm und seinen Kumpels erst später bewusst geworden sein. Sein nüchterner Blick auf die Architektur und Bausubstanz wirkt für ein Kind zunächst ungewöhnlich. Andrej erinnert sich an seine Ost-Berliner Jugend aus der Distanz des Erwachsenen und in dessen Duktus. Wenn Andrej die Einschlusslöcher in Hausfassaden aus dem Zweiten Weltkrieg nahtlos in seine Spiele und Phantasien integriert, ist er ganz das Kind, das noch nicht versteht, was es in der Schule tun soll und vor allem, welche Person es dort sein soll. Eine Gedankenwelt, für die Erwachsene in der Zeit nach der Wende vielleicht zu wenig Energie aufbringen konnten. Renovierungsstau und Mangelwirtschaft führten in der DDR zu einer unendlichen Geschichte der Unzufriedenheit, zunächst nur hinter vorgehaltener Hand gezischt. Die restaurierten Fassaden, die Andrejs Welt erobern, vermitteln daher eine eigene zweischneidige Symbolik.

„Am Rand der Dächer“ zeichnet das Ende einer Ost-Berliner Kindheit in der Nachwendezeit. Der Übergang von Erinnerungen an die Hinterhöfe der Kinderzeit zur Perspektive des erwachsenen Berichterstatters gelingt Lorenz Just äußerst glaubwürdig und mit einem speziellen Blick auf die Architektur der Stadt.