Rezension

Vom Hunger nach Bildung - ein Klassiker

Himmel und Hölle - Jón Kalman Stefánsson

Himmel und Hölle
von Jón Kalman Stefánsson

Bewertet mit 5 Sternen

Dorsch wurde vor 100 Jahren von offenen Ruderbooten aus mit Angelleinen gefischt. Sechs Mann gehörten zu einer Bootsbesatzung, die geschmiedete Haken mit Ködern besteckten, stundenlang auf den Fjord hinaus ruderten und - oft in Schnee und Eis -  die Leinen mit ihrem Fang wieder einholten. Kaum einer der Männer konnte schwimmen; im eisigen Wasser hätte ihm das auch wenig genützt. Kenterte ein Boot, starben dabei oft Brüder oder Vater und Sohn. Im Leben der Männer besteht Glück aus Wärme, Licht und Tabak. In solch einem Sechser-Team arbeiten ein Junge, dessen Name nicht genannt wird, und sein Kamerad  Bárdur. Die ganze Härte ihres Lebens wird in der Szene deutlich, als Àrni 6 Stunden zu Fuß nachhause marschiert, um seine Frau vor dem Auslaufen noch einmal zu sehen. Bárdur und der Junge lesen in jeder freien Minute. Ihre Bücher leihen sie sich bei dem legendären blinden Kapitän Kolbeinn aus, von dem man munkelt, er würde 400 Bücher besitzen. Lesen ist Verschwendung von Zeit und Licht, finden die anderen Männer. Als Bárdur, vertieft in John Milton, beim Auslaufen seinen Anorak an Land vergisst, kostet ihn das sein Leben. Vor den Augen der Männer gefriert der nasse Schnee auf Bárdurs Wollpullover und er erfriert, noch ehe das Boot zurückgekehrt ist. Mancher wird Bárdurs Tod seiner Sehnsucht zuschreiben nach allem, was außerhalb des Fjordes existiert; durch seinen Wissensdurst hat  er aber auch den Rest der Mannschaft in Gefahr gebracht …

Der Junge verlässt die Mannschaft und marschiert mitten im Winter in den Ort zurück, aus dem Bárdur und er einmal an die Küste gekommen sein können. Er will Kolbeinn sein Buch zurückzubringen, entschlossen dann selbst aus Kummer um Bárdur zu sterben. Vom archaischen Kampf gegen das Meer aus einer Nussschale heraus vollzieht er damit einen Szenenwechsel in einen Ort mit Handel, Gasthaus und einem wohlhabenden Bürgertum, das sich Dienstboten, große Häuser und Bildung leisten kann. Der Wohlstand, aus dem heraus Kolbeinns privater Bücherverleih entstanden ist, wirkt beinahe obszön im Vergleich zum harten Leben der Dorschfischer.

Erzählt wird die Geschichte in wunderbarer Sprache von einem allwissenden Erzähler (auch er könnte aus Bárdurs Dorf stammen), der die Dramatik der Ereignisse mit feiner Ironie abfedert.  Ein zeitloser Roman über den Hunger nach Bildung, der zu den in Fischereimuseen ausgestellten Dorschleinen die Geschichte der Fischer erzählt.