Rezension

Vom Kämpfen und sich ergeben.

Nach dem Winter
von Guadalupe Nettel

Bewertet mit 5 Sternen

Nach Daniel Galeras "So enden wir" mein zweiter moderner südamerikanischer Roman. Diese Südamerikaner haben es einfach drauf. Oder sie haben etwas nachzuholen. Den Existenzialismus.

„Nach dem Winter“, ein sehr treffender Titel, von der südamerikanischen Autorin Guadalupe Nettel, kann man mit Fug und Recht als großen philosophischen Roman bezeichnen. Es ist der erste Roman ihres Schaffens, der ins Deutsche übertragen wurde. Ein großartiger Roman. Ein handlungsarmer Roman. Und mit der Eigenschaft der Handlungsarmut fängt die Schwierigkeit an, mit der der unbedarfte Leser zu kämpfen hat. Auf weite Strecken passiert nichts. Außen. Und auch innen friert es ein.

Als Gegenwert erhält der geneigte Leser philosophische Betrachtungen über das Leben.

So wie Paris eingerahmt ist von den vier Friedhöfen jeder Himmelsrichtung, Montmartre im Norden, Père Lachaise im Osten, Passy im Westen und Montparnasse im Süden, ist die Story von Guadalupe Nettel eingerahmt von Betrachtungen über den Tod, die Liebe, das Sterben, das Dasein. Ihre Protagonisten haben eine schon fast morbide Affinität zu Friedhöfen, ganz besonders zu dem berühmtesten unter ihnen, Père Lachaise. Wo so viele berühmte Personen begraben liegen. Darunter viele Schriftsteller.

Und das ist die zweite Schwierigkeit, auf die der Leser stößt: die unbequemen Protagonisten. Einmal weiblich. Einmal männlich. Beide warten mit nicht allzugroßer Anziehungskraft auf. Null Charme. Wenig Empathiefähigkeit. Eingefrorene Persönlichkeiten. Beide schwer zu ertragen.

Der männliche Part, Claudio, ist restriktiv, reduziert, ein penibler Ordnungsfanatiker. Einer, der nicht mit oder durch Emotionen anderer oder sogar eigener belästigt werden möchte. Einer, der sich aus allem heraushält. Claudio hat eine Liaison mit einer älteren, wohlhabenden Partnerin, einer sogannten „cougar“. Ein pejorativ verwandter Ausdruck für weibliche ältere Personen, die sich gezielt einen jüngeren männlichen Sexualpartner erjagen. Allerdings ist die Jagd auf ihn, Claudio, mehr hineingesehen als real. Claudio ist überheblich und sein Frauenbild lässt zu wünschen übrig. Gelinde gesagt!

Doch: er ist in all seiner Labilität in der Lage, sich selbst eine Struktur zu geben, die ihn am Auseinanderfallen hindert. Als sein Ordnungssinn ihm nicht mehr hilft, weil das Leben Arschkarten verteilt oder auch, weil er die Realität nicht als solche einzuschätzen vermag, dreht er durch und glaubt, wahnsinnig zu werden. Von den Geistern seiner Vergangenheit heimgesucht. Doch er findet eine neue Struktur, die ihm hilft: er beginnt Marthon zu laufen und entkommt wenigstens zweitweise seinen Zwängen und Schuldgefühlen.

Cecilia dagegen, als Stipendiatin von Mexiko nach Paris gekommen, wird, sobald der Winter das Land überzieht, katatonisch. Kulturschock. Entwurzelungsdepression. Im Gegensatz zu Claudio, für den Kontrollverlust mit Selbstaufgabe gleichzusetzen ist, lässt Cecilia sich fallen, treiben und überlässt sich ohne darüber nachzudenken, dem Zufall. Der ihr eines Tages in Gestalt ihres Nachbarn Tom und mit dem Sommer tatsächlich zu Hilfe kommt. So wird sie von der Liebe „entdeckt“. Ohne einen Finger zu rühren. Sie ist eine aggressiv-passive Persönlichkeit. Diese Aggressivität richtet sich jedoch nur gegen sich selbst.

Als die Liebe stirbt, weil sich die Todesverliebtheit aller Beteiligten rächt und der Tod zur Realität wird, bricht Cecilia zusammen, vernachlässigt ihre Körperpflege und wird asozial. Leben oder Tod. Egal. Doch wiederum wird sie von außen gerettet. Cecilia wird immer auf die Beine fallen! Ganz unverdient. Und zollt ihrem Glück kaum Beachtung.

Mir nötigt der männliche Part Respekt ab. Claudio kämpft. Auch er ist in hohem Grade neurotisch, wird von einem Schuldkomplex verzehrt, flüchtet sich in die Hybris. Doch er kämpft. Um seine Würde, seine Selbstbestimmtkeit, um Kontrolle. Er bezahlt dafür einen hohen Preis, beinahe meint man, es sei der Preis der Menschlichkeit selbst, den er bezahlen muss und tatsächlich ruft Claudio am Scheitelpunkt seines Lebens verzweifelt aus, er wolle ein Roboter sein: Endlich frei sein von allen unerwünschten Gefühlen. Denn obwohl er sich hart macht, wird er immer wieder von den Verlusten und Schmerzen, der Pein, die seine Mitmenschen erdulden, wenigstens gestreift. Dann zuckt er zusammen. Er lebt noch! Er fühlt noch! Und leben und fühlen ist für ihn das Leid schlechthin. 

Als es ihm jedoch ein einziges Mal gelingt, seine ganz innere Stimme zu ignorieren, die ihm zuflüstert, einzugreifen und einem anderen Menschen zu helfen, wird er von dem schlimmsten aller Kontrollverluste, die es überhaupt für ihn gibt, dem puren Zufall, ereilt und in seine allergrößte Lebenskatastrophe gerissen. Allerdings, und das ist großartig, wie die Autorin dies macht, wird er gerade dadurch geläutert, durchläuft eine Katharsis, kann loslassen, sich dem Leben überlassen, seine Beschränkungen und seine Beschänktheit akzeptieren und findet „nach Hause.“ Ein kleines Leben, aber ein Leben. Im Gegensatz zu Cecilia weiß er das Leben nun zu schätzen.

Die Beschäftigung mit dem Tod, das Eingerahmt-sein von ihm, sowohl real durch die Friedhöfe als auch emotional und symbolisch durch die Protagonisten anhand ihrer Todesverliebtheit, eine gestörte Liebelei mit dem Sterben, rückt den Roman in die Nähe von Existenzialismus, Nihilismus sogar. Die Protagonisten fungieren eher als Kunstfiguren denn als solche von Fleisch und Blut. Dazu kommt, dass Nettel den beiden dunklen Persönlichkeiten Claudio und Cecilia jeweils einen helleren Gegenpart zur Seite stellt, Ruth geht mit Claudio, Tom mit Cecilia. Diese aufhellenden Zweitprotagonisten sind jedoch keine Lichtgestalten per se, keine weißen rettenden Engel. Aber sie sind nicht so schwarz wie ihre Partner, eher grau, so dass am Ende des Romans sich die schweren Schleier der Depression heben und einen einigermaßen versöhnlichen Lebensblick ermöglichen.

Fazit: Düster und großartig! Hoffentlich lesen wir noch mehr von dieser Autorin. Ich würde mich freuen! Leseempfehlung!

Kategorie: Anspruchsvoller Roman.
Verlag: Blessing, 2018

Kommentare

sphere kommentierte am 28. April 2018 um 22:46

Deine Rezension ist sehr gelungen und weckt das Interesse auf das Buch!

Nur eine Berichtigung: Guadelupe Nettel ist Mexikanerin, das kann als lateinamerikanisch definiert werden; wenn es jedoch um geographische Bestimmung geht, muss es folgerichtig nordamerikanisch heißen.

wandagreen kommentierte am 28. April 2018 um 23:51

Deins?

Findest du? Ist es eigenwillig alles "unter USA" als südamerikanisch zu definieren? *g*. Danke trotzdem für den Hinweis.

Steve Kaminski kommentierte am 29. April 2018 um 09:46

Ich kann nur Spheres Beschreibung Deiner Rezension zustimmen: Sehr gelungen, spannend, indem sie mich interessiert überlegen lässt, was das denn für ein Buch ist.

Du hast Dir aber auch Zeit gelassen mit der Rezi - ich dachte schon, Du liest nicht mehr! :-)