Vom Kunstkrimi zum Psychothriller
Bewertet mit 4 Sternen
REZENSION – Weltbekannt wurde die britische Schriftstellerin Paula Hawkins (52) im Jahr 2015 mit ihrem ersten nicht mehr unter dem Pseudonym Amy Silver, sondern unter richtigem Namen veröffentlichten Roman „Girl on the Train“. Im Januar erschien nun ihr vierter Roman „Die blaue Stunde“ auf Deutsch beim dtv Verlag, der dank seiner geschickt aufgebauten Dramaturgie – von einem anfangs ruhigen, in der Kunstwelt spielenden Krimi zu einem vielschichtigen, atmosphärisch dichten und brutalen Psycho-Thriller – wiederum ein internationaler Bestseller zu werden verspricht. Wie in Hawkins' bisherigen Büchern geht es auch im neuen Roman um das recht komplizierte bis zerrüttete Seelenleben ihrer Frauenfiguren, an dem die Männerwelt nicht ganz unschuldig ist.
Zwar ist die geheimnisvolle Malerin und Bildhauerin Vanessa Chapman schon vor Jahren gestorben, aber umso berühmter sind heute ihre Werke, die weltweit in den bekanntesten Galerien ausgestellt werden. Eines Tages wird James Becker, Kurator der Chapman-Sammlung in der Fairburn-Stiftung, der die Künstlerin sämtliche Werke testamentarisch vermacht hat, von der Tate Gallery informiert, dass in der dort ausgestellten Skulptur ein menschlicher Knochen entdeckt worden ist. Sowohl die Tate Gallery als auch die Fairburn-Stiftung fürchten nun einen rufschädigenden Skandal. Um dem zuvorzukommen und das Rätsel zu lösen, fährt James Becker auf die abgelegene Insel Eris Island vor der schottischen Küste, die Vanessa Chapman gehörte und wo sie viele Jahre bis zu ihrem Tod wohnte. Heute lebt auf dieser Insel, die nur alle sechs Stunden bei Ebbe über einen schmalen Damm vom Festland aus erreicht werden kann, nur noch Chapmans langjährige Freundin Grace Haswell, eine ältliche, unverheiratete und vom Leben enttäuschte Ärztin.
In Gesprächen mit Grace und aus ihm überlassenen Tagebuchnotizen der Künstlerin erfährt Becker immer mehr über deren gescheiterte Ehe mit Julian Chapman. „Er hat Werke von ihr verkauft, um seine Schulden zu bezahlen, sich durch die Betten gevögelt.“ Dennoch war Vanessa ihm sexuell verfallen und vermochte nicht, sich von ihrem Mann zu befreien. Julians mysteriöses Verschwinden vor 20 Jahren ist allerdings bis heute ein ungelöstes Rätsel. Ergänzend lesen wir die kapitelweise eingestreuten Erinnerungen der jetzigen Inselbewohnerin Grace Haswell, in denen ihre Beziehung zu Vanessa und ihre Pflichtauffassung, die Künstlerin beschützen zu müssen, immer deutlicher wird. Dass ein menschlicher Knochen in einer von Vanessas Skulpturen stecken soll, lässt sich für Grace allenfalls durch die Tatsache erklären, dass vor langer Zeit die Küstenbewohner ihre Toten auf der Insel bestattet haben, um diese vor der Ausgrabung durch Wölfe zu bewahren.
Von Kapitel zu Kapitel steigert die Autorin die Spannung. Was wie ein harmloser Kunstkrimi beginnt, entwickelt sich fast unmerklich und untergründig zu einer dramatischen Tragödie. In der subtilen Zunahme der atmosphärischen Dichte ist der stilistische Einfluss durch Werke der Schriftstellerin Daphne du Maurier zu spüren, die nach Hawkins Aussage Vorbild für ihr eigenes Schaffen ist. Als Leser weiß man nie genau, ob und woher eventuell Gefahr droht. Verstärkt wird diese unheimliche Atmosphäre noch durch die raue Natur der einsam gelegenen Insel, die bei Sturmflut nicht nur stunden-, sondern tagelang vom Festland getrennt bleibt. Zusätzlich sorgt „die blaue Stunde“ der Dämmerung, in der nichts mehr genau zu erkennen ist und man nicht mehr weiß, was Wirklichkeit und was Einbildung ist, für weitere Unsicherheit und Dramatik.
Vielleicht mag mancher zu Beginn des Romans sich fragen, wohin die Autorin ihn führen will oder sich mehr Tempo wünschen. Doch ist dies, wie man später erkennen wird, nur Mittel zum Zweck und schon bald vergessen. Die Charakterisierung sowohl der sensiblen, auch unselbstständigen Künstlerin als auch des ihr wohlmeinenden, leicht zu übertölpelnden Kurators James Becker ist in der Komplexität emotionaler Konflikte und zwischenmenschlicher Beziehungen gelungen. Vor allem aber die in psychologische Abgründe reichende Typisierung der „Haushälterin“ Grace Haswell, die in ihrer Doppelbödigkeit kaum zu greifen ist, macht den Roman letztlich zu einem packenden Thriller mit überraschendem Finale, den man bald kaum aus der Hand legen mag. Wer also psychologische Spannung mit literarischem Anspruch mag, sollte unbedingt „Die blaue Stunde“ lesen.