Rezension

Vom Menschsein...

Gott wohnt im Wedding - Regina Scheer

Gott wohnt im Wedding
von Regina Scheer

Bewertet mit 4 Sternen

Ein Haus. Ein Jahrhundert. So viele Lebensgeschichten.

Alle sind sie untereinander und schicksalhaft mit dem ehemals roten Wedding verbunden, diesem ärmlichen Stadtteil in Berlin. Mit dem heruntergekommenen Haus dort in der Utrechter Straße. Leo, der nach 70 Jahren aus Israel nach Deutschland zurückkehrt, obwohl er das eigentlich nie wollte. Seine Enkelin Nira, die Amir liebt, der in Berlin einen Falafel-Imbiss eröffnet hat. Laila, die gar nicht weiß, dass ihre Sinti-Familie hier einst gewohnt hat. Und schließlich die alte Gertrud, die Leo und seinen Freund Manfred 1944 in ihrem Versteck auf dem Dachboden entdeckt, aber nicht verraten hat. Regina Scheer, die großartige Erzählerin deutscher Geschichte, hat die Leben ihrer Protagonisten zu einem literarischen Epos verwoben voller Wahrhaftigkeit und menschlicher Wärme.

Die Erzählungen des Hauses selbst sind das verbindende Glied zwischen den verschiedenen Strängen in diesem Roman. Ein Mietshaus, das seit 1890 an seinem Platz in der Utrechter Straße im Arbeiterviertel Wedding in Berlin steht. Viel gesehen und gehört hat das Haus in all dieser Zeit, viel erlebt und erlitten, viel gestaunt und gewundert hat es sich. Das Haus kennt die Schicksale all der Menschen, die in den über hundert Jahren seines Daseins in diesem Haus gelebt haben, und vieles wiederholt sich, wie es nicht müde wird zu betonen. Durch die Erzählperspektive des Hauses werden die anderen Erzählstränge verknüpft und Wissenswertes ergänzt, was ansonsten wohl ungesagt geblieben wäre.

Neben dem Haus gibt es noch drei weitere Erzähl-Perspektiven, nämlich die von Leo, von Laila und von Gertrud.

Leo Lehmann ist Jude und streifte während des Nationalsozialismus mit seinem Freund Manfred als sog. U-Boot durch Wedding. Während die Familien der beiden schon deportiert waren, hielten sich die Jungen durch Schwarzmarkthandel über Wasser. In dem Haus in der Utrechter Straße konnten sie sich immer wieder einmal verstecken. Nach dem Krieg wanderte Leo nach Israel aus, engagierte sich dort in einem Kibbuz und gründete eine Famile. Mit seiner Enkelin Nira ist er nun wieder in Berlin, da es gilt, rechtliche und finanzielle Angelegenheiten zu regeln. Leo sucht alte Schauplätze auf und erinnert sich, begegnet aber auch interessanten Menschen von heute.

Laila Fidler entstammt einer Sinti-Familie, ist als 16-Jährige mit ihrer Mutter nach Berlin gekommen und dort geblieben. Sie hat das Abitur gemacht und Sozialarbeit studiert, lebt von ihrem Noch-Mann getrennt und arbeitet derzeit in einem Blumenladen. Laila bewohnt eine der Wohnungen in dem Mietshaus in der Utrechter Straße, wo plötzlich noch zahlreiche andere Sinti-Familien einquartiert werden. Obwohl Laila sich lange bemüht hat, ihre Sinti-Wurzeln zu verbergen, steht sie nun den Familien bei ihrem Gang zu den Ämtern, bei den Anträgen, bei Rechtsstreitigkeiten zur Seite, wohl wissend, dass diese sonst niemanden haben, der sie unterstützt.

Gertrud Romberg schließlich wohnt schon ihr ganzes Leben lang in dem Haus im Wedding, wo sie schon geboren wurde. Sie kannte Leo Lehmann und seinen Freund Manfred in ihrer Jugend gut und bot ihnen während des Nationalsozialismus immer wieder heimlich Unterschlupf. Als damals in ihrer Wohnung Manfred verhaftet wurde, lag der Verdacht nahe, dass Gertrud ihn verraten hätte. Leo hat seither jeden Kontakt zu ihr gemieden - doch hatte Gertrud ihr ganz eigenes Schicksal in dieser Zeit. Hochbetagt fügt sie sich nun den Veränderungen, die sich durch den Zuzug der Sinti im Haus vollziehen. Wider Erwarten kommt sie mit einigen von ihnen in einen regen Kontakt - und Erinnerungen kommen hoch...

Diese doch recht ausführliche Vorstellung der Hauptcharaktere mag genügen um zu verdeutlichen, dass hier drei Schicksale geschildert werden, die wohl auch jedes für sich einen Roman gefüllt hätten. Doch Regina Scheer ist ihrem Konzept treu geblieben, das sie auch in ihrem ersten Roman schon angewandt hat (Machandel). Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven, wobei der Roman sehr vielschichtig angelegt ist und laufend eine Fülle an Informationen, Emotionen, Nachdenkenswertem eingewoben wird. Doch was mich bei Machandel noch begeistern konnte, empfand ich in diesem aktuellen Roman an vielen Stellen als zu viel.

Zu viele Personen: In jedem Abschnitt tauchen neue Namen auf, oft nur als Randnotiz, teilweise auch als wiederkehrende Nebenfiguren, die immer wieder mal eine Rolle spielen. Gerade bei den Abschnitten über die Sinti rauchte mir oft der Kopf angesichts der zahllosen Namen, deren Schicksale wie an einer Perlenkette des Leidens aneinandergereiht werden ohne dem Leser die Zeit zu geben, wirklich daran teilzuhaben. Vielleicht war das von der Autorin so gewollt, aber durch diese Vielzahl blieb ich zu allen Figuren auf Distanz, selbst zu den Hauptcharakteren. Wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich gestehen, dass ich einzig einzelne Passagen aus Sicht des Hauses überhaupt berührend fand.

Zu viele Themen: Judenverfolgung, Hitlerjugend, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, die Geschichte des Hauses, die Geschichte des Viertels, der Zuzug der Sinti und deren Geschichte(n) über die Jahrhunderte, die Haltung Deutschlands (und anderer Länder) zu Juden und zu Sinti, Klischees, die Sinti betreffend, unüberwindbarer Bürokratismus, Vergangenheitsbewältigung, undurchdringliche Politik, Immobilienspekulanten, die Geschichte und Entwicklung Israels, kulturelle Besonderheiten der Sinti, Schuld und Vergebung - u.v.m. Ich habe jetzt ins Blaue hineingeschrieben und ungeordnet, bei längerem Nachdenken würde sich sicher noch mehr finden.

Zu viele Informationen: Zusammenhängend mit der geschilderten Themenvielfalt prasselt ein Hagel aus Informationsbrocken auf den Leser ein. Jedes Detail für sich genommen: überaus interessant. In der Summe: eine Überforderung. Zu merken ist auf jeder einzelnen Seite, wie akribisch und ausführlich Regina Scheer hier zu den verschiedenen Themen recherchiert hat. Da ihr offensichtlich jeder Wissensfund von Bedeutung schien, hat sie ihn dementsprechend auch einfließen lassen. Ich fühlte mich da phasenweise erschlagen.

Und dennoch - bei aller Kritik an dem Zuviel: die Konzeption des Romans in seiner Vielschichtigkeit ist auch bewundernswert. Vielleicht hätte ich mir mehr Zeit nehmen müssen, immer höchstens einen Abschnitt lesen - auch Machandel erforderte schon ein bedächtiges Lesen in kleinen Portionen.  Was mir ebenfalls gefiel, ist die Tatsache, dass Regina Scheer in die Schilderungen von kulturellen Eigenheiten / Unterschieden oder auch von Missständen keine Wertung einfließen lässt, wodurch beim Leser zumindest eine kleine Annäherung an das 'Fremde' möglich wird, wo ansonsten womöglich Abwehr gestanden hätte.

Es ist kein warmherziger Roman, sondern eher distanziert geschrieben, sachlich fast, so dass selbst Unfassbarkeiten kaum mit Emotionen verbunden werden und auch bei mir als Leser selten einmal Gefühle hervorriefen. Die Melancholie allerdings, die bereits Machandel schon zueigen war, zog sich konsequent auch durch diesen Roman, was das Lesen manchmal schwer machte.

Und doch hat mir der Schreibstil Regina Scheers wieder gut gefallen - was da manchmal so aufblitzte: davon hätte ich gerne mehr gehabt. Wie z.B. das Gedicht:

Wenn ich sterbe, was geschieht dann
mit der Asche, die ich werde?
Hebt der Wind sie zu den Wolken
oder bleibt sie und wird Erde?
Ist ein kleines Stück von mir in
einem Aschekorn verfangen?
Kann es, wenn der Wind es fortträgt,
zu den Lebenden gelangen?

Die Bewertung eines solchen Romans fällt mir schwer. Ich ahne wohl nur, wie viel Recherchearbeit hinter den Zeilen liegt, wie sorgfältig hier die Verflechtung der Handlungsstränge vollzogen wurde, wie sehr an den Charakteren gefeilt wurde und wie wichtig die vielfältigen Themen der Autorin selbst sind. Aber habe ich nicht auch ein Leseerlebnis zu bewerten? Ich vergebe hier nun 3,5 Sterne, die ich gerne zu 4 Sternen aufrunde, weil ich die o.g. Aspekte mit berücksichtigen will. Aber so überzeugen wie mit ihrem Debüt konnte mich Regina Scheer mit diesem Roman leider nicht.

© Parden