Rezension

Vom Puppenspiel und vom Leben DDR-Kulturschaffender

Die Gewitterschwimmerin - Franziska Hauser

Die Gewitterschwimmerin
von Franziska Hauser

Bewertet mit 3.5 Sternen

Tamara Hirsch, geboren 1951 in der damaligen DDR, ist diplomierte Puppenspielerin mit sozialistischem Erziehungsauftrag. Über die Augsburger Puppenkiste der Westdeutschen können vom Staat finanzierte Kulturschaffende wie sie nur lachen. Puppenspielerei studierte man damals am besten in der Tschechoslowakei und konnte nach dem Examen selbst als alleinerziehende Mutter mit einem sicheren Einkommen rechnen. Allein erziehende Väter fanden sich selten; denn der sozialistische Staat hatte auf dem Propaganda-Weg ein Bild starker, unabhängiger Mütter kreiert, in dem Väter nicht vorkamen. Tamara hat heute zwei Töchter, die in den 70ern geboren wurden.

Als in der Gegenwart Tamaras Mutter Adele mit beinahe 80 Jahren tödlich verunglückt, wird Tamara mit der Geschichte ihrer Künstlerfamilie konfrontiert, die durch ihren Status als Juden, Krieg, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Leben im Exil und ein Maß an Vernachlässigung und sexueller Gewalt geprägt war, die Leser von heute sprachlos machen wird. Von vier Generationen erzählt Franziska Hauser in kurzen Abschnitten und auf zwei gegenläufigen Zeitachsen. Eine Zeitachse verläuft von 1889 und Großvater Friedrich, der den Kaiser und zwei Weltkriege miterlebte, bis in die Gegenwart, die andere von der Gegenwart rückwärts. Friedrichs Sohn Alfred, bereits KZ-Häftling, kann sich mit tatkräftiger Hilfe seiner Frau vor der Verfolgung durch die Nazis nach England retten, wo er sich zum begnadeten Pädagogen qualifiziert. Nach Kriegsende muss Alfred erkennen, dass die in vier Sektoren geteilte Bunderepublik auf Sozialisten und Kommunisten nicht gewartet hat und ihn wie ein nicht bestelltes Paket in den russisch besetzten Sektor abschiebt.

In zweiter Ehe werden Alfred die Töchter Tamara und Dascha geboren. Inzwischen ist Alfred Romanautor im Auftrag des Sozialismus und hat als ehemaliger Widerstandskämpfer besondere Privilegien. Alfred und Adele sind für den Aufbau der DDR – und vermutlich für die Völkerfreundschaft – in aller Welt unterwegs, während die Töchter von der Haushälterin Irmgard betreut werden. Reisekader nannte man das damals. Die Privilegierten brachten von ihren Auslandsreisen Dinge mit, die normale Werktätige in der DDR nicht kaufen konnten und hatten wenig realistische Vorstellungen vom Leben im realen Sozialismus, wie Tamara als Schülerin feststellen muss. Sie wollte schon als Kind immer nur weg aus dieser Villa, so weit weg wie möglich aus der Enge des Bonzenviertels und bewirbt sich deshalb nach der Schule für einen Praktikumsplatz als Puppenspielerin in Zwickau. Im Handlungsverlauf wird von Seite zu Seite deutlicher, dass sie auch vor dem Missbrauch durch Vater und Onkel flieht, den Mutter Adele bewusst duldet. Tamaras jüngere Schwester wechselt schon seit ihrer Kindheit zwischen Selbstmordversuchen und Psychiatrieaufenthalten durch. Tamara nimmt die Widersprüchlichkeiten eines Staates bewusst wahr, der seinen Landeskindern als strenger Vater entgegentritt und ihnen keine Entscheidung selbst überlässt. Es ist dennoch eine vaterlose Gesellschaft, in der einzelne Jugendliche zwar ihre gewalttätigen Väter hassen, eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus jedoch unterbleibt. Sehr bewegend wirkte die Biografie der Haushälterin Irmgard, die keinen Bauern und keinen Fleischermeister heiraten wollte. Irmgard ist Tamaras Gegenstück, sie will ebenfalls nur weg aus ihrem Dorf und zahlt dafür einen hohen Preis. Tamara traue ich das zu, was der Titel des Romans verspricht: weil sie jahrzehntelang gepredigt bekam, dass man bei Gewitter nicht draußen schwimmt, wird sie genau das trotzdem ausprobieren.

Hausers Plot ist mit gegenläufigen Zeitachsen, Figuren aus vier Generationen und seinen Schauplätzen in mehreren Ländern komplex konstruiert. Es dauerte eine Weile, bis mir die Anordnung der Szenen deutlich wurde. Tamara erzählt in der Ichform, ihre Tonlage trägt den Roman, abwechselnd mit einem allwissenden Erzähler. Die Abschnitte in der Gegenwart und aus der Ichperspektive fand ich leichter zugänglich als die Erlebnisse der Elterngeneration. Vorkenntnisse zum Leben in der DDR sind für das Verständnis der Familiengeschichte hilfreich. Da Hausers Mutter Puppenspielerin war, erzählt sie mit der Geschichte der Familie Hirsch vermutlich auch ihre eigene Familiengeschichte. Wegen expliziter Missbrauchsszenen sollten Betroffene mit Triggerwirkung rechnen.