Rezension

Von der Kulturrevolution zu den Goldbergvariationen - heftige Biographie

Von Mao zu Bach - Xiao-Mei Zhu

Von Mao zu Bach
von Xiao-Mei Zhu

Bewertet mit 5 Sternen

"Wissen Sie, wo ich Noten finden könnte?" Ich bin mir der Gefahr bewusst, aber ich kann nicht anders. ...

Ein ehrliches, aufrüttelndes Buch. Die Autorin, eine Ausnahmepianistin, beschreibt ihren zermürbenden Weg durch die umfassende Gehirnwäsche, der ihre gesamte Generation während Maos Kulturrevolution ausgesetzt war.

Schon der zwölfjährigen begabten Musikerin trichtert man ein, sie sei ein "Kind schlechter Herkunft" (da sie aus einer gebildeten Familie stammt); um sich von diesem Makel reinzuwaschen, versucht sie, eine besonders gute Revolutionärin zu werden. Irgendwann wird an dem Musikkonservatorium aller Unterricht verboten, die Studenten zur Umerziehung aufs Land geschickt. Und sie glauben an die Richtigkeit dieser Maßnahmen. Verstehen sie etwas nicht, heißt es: wir müssen Mao vertrauen. Abends gibt es regelmäßige Denunziationsveranstaltungen. Alle werden hier gleichsam Opfer und Täter eines gnadenlosen Systems. Es ist eine große Stärke des Buches, dass Xiao-Mei ihr eigenes Schuldigwerden nicht ausspart. Sie wird zum Mitläufer. Statt Bildung müssen die jungen Musiker Jahre lang stumpfsinnige harte Arbeit verrichten. Obwohl den ehemaligen Studenten die Trostlosigkeit ihres Daseins bald klar wird, sind sie unfähig, dagegen aufzubegehren. Erst durch die heimliche Wiederentdeckung der lange verbotenen Musik (schon ein Klavier zu besitzen machte einen zum Bourgeoisen) entdecken sie auch ihre Individualität wieder. Xiao-Mei schreibt im Lager heimlich den ganzen ersten Band des Wohltemperierten Klaviers ab. So wie unsere Leute im dritten Reich Beethoven sagten, wenn sie Mendelssohn spielten, gaben die jungen chinesischen Musiker vor, albanische Musik zu spielen, wenn sie heimlich Klassiker übten.

Xiao-Mei schafft es mit dem Mut der Verzweiflung, sich von der Mutter ihr Klavier aus Peking schicken zu lassen; mit einem Karren transportieren es ihre Freunde vom Bahnhof ins Arbeitslager. Nun aber sind 20 Saiten gerissen. Xiao-Mei klappert alle Geschäfte in der Stadt ab und kehrt mit Drähten zurück.

Leichten Herzens gehe ich ins Lager zurück und ersetze die gerissenen Saiten sorgfältig durch Draht. Was ich dann höre, ist mittelmäßig, in den höheren Lagen nahezu unerträglich. Aber ich bin glücklich: Statt des Hämmerns ist jetzt ein Klang zu hören. Mein Klavier mag verletzt sein - aber es ist bei mir.

Während des Musikstudiums haben wir auf allen möglichen Gurken spielen müssen, aber eine Saite durch einen Draht zu ersetzen, wäre uns in unseren abgründigsten Träumen nicht eingefallen. Das Buch ist voll von solchen fassungslos machenden, anrührenden Momenten.

Der zweite Teil beschreibt Xiao-Meis mühsames Fußfassen im Westen, nachdem sie die Möglichkeit hatte, auszureisen. Sie begreift, dass ihr 10 Jahre ihres Lebens gestohlen wurden. Das Erwachen zur Freiheit ist schmerzhaft und mühevoll. Aber sie gibt nicht auf. Und findet immer wieder Freunde, die ihr weiterhelfen. Und dann beginnt sie, Bachs Goldberg-Variationen zu spielen...

Das Buch ist in dreißig Kapitel gegliedert - wie die Goldberg-Variationen, Bachs Meisterwerk. Dreißig Kapitel und eine Aria, mit der das Werk öffnet und abschließt, die einen Kreis bilden wie das Rad der Zeit, das Rad des Lebens.

Und ich werde mich nun auf mein Sofa begeben und die Goldberg-Variationen hören. Gespielt von Zhu Xiao-Mei.