Rezension

Von der Reichenau nach Reykjavik

Gnadensee - Ingrid Zellner

Gnadensee
von Ingrid Zellner

Bewertet mit 5 Sternen

Lona, Tochter aus begütertem Hause und Studentin ohne eigentliches Ziel, lebt nach dem Unfalltod des Vaters zusammen mit ihrer abweisenden und gefühlskalten Mutter in der Familienvilla auf der Bodenseeinsel Reichenau.
Nachdem sie am Tag ihres 24. Geburtstages vergeblich auf ihren Freund Dirk gewartet hat, beschließt sie, ihn in seiner Wohnung aufzusuchen. Doch er ist spurlos verschwunden und niemand weiß etwas über seinen Verbleib.
So macht sich Lona auf die Suche nach ihm und dabei verfestigt sich ihr anfänglicher Verdacht, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen sein muss.
Auch sein Freund und Kommilitone, der junge Isländer Brynjar, ist nicht auffindbar. Eine erste Spur, die zur Erhellung der Umstände des rätselhaften Verschwindens der beiden Freunde beitragen soll, führt nach Island. Dort lebt Brynjars Bruder Arnar, der im Folgenden bei der Suche nach den beiden Verschwundenen an Lonas Seite sein wird.
Zurück in Deutschland überstürzen sich die Ereignisse und Lona ereilt ein Schicksalsschlag nach dem nächsten, an denen sie zu zerbrechen droht. Doch gibt sie nicht auf und nähert sich Schritt für Schritt einer unerwarteten Lösung, die sie selbst in tödliche Gefahr bringt...

Kann man einen Kriminalroman wirklich als "schön" bezeichnen?
Eigentlich sind die darin erzählten Geschichten,denen immer ein Verbrechen zugrunde liegt, niemals schön!
Doch dieser Roman ist tatsächlich von einer eigenartigen, berührenden Schönheit!

Die Hauptfigur Lona bewegt sich auf landschaftlich faszinierenden Schauplätzen: da ist zum einen der Bodensee mit seinen Inseln, den die Autorin vor den Augen des Lesers auftauchen lässt. Und sie tut dies auf eine Weise, die nicht gleich ins Auge springt. Weder bemüht sie den sogenannten Lokalkolorit, mit dem neuerdings so viele Krimis nerven, noch langweilt sie mit schwelgerischen und quälend ausführlichen Beschreibungen. Eher karg sind die Hinweise auf die schöne Landschaft mit ihren Kulturschätzen, dennoch so eindringlich und stimmungsvoll, dass man die Atmosphäre, die sie heraufbeschwört fast mit Händen greifen kann.
Großartig macht sie das!

Das gleiche gilt für Island, den zweiten Schauplatz, die Insel aus Feuer und Eis im nördlichen Atlantik, die in den letzten Jahren immer mehr zu einem begehrten Reiseland geworden ist.
Auch die dort spielenden Szenen sind stimmungsvoll, fangen den besonderen Zauber, der von der Insel, ihrer Landschaft, ihrem Licht und ihrem unvergleichlichen Himmel ausgeht, in einem Maße ein, dass jeder Leser wie gebannt ist - und Sehnsucht bekommt nach dem kühlen Land hoch oben im Norden.
Und denjenigen, die schon dort waren, kommen die Gefühle, die Eindrücke, die die Insel in ihnen hinterließ, zurück aus der Erinnerung, werden gegenwärtig.

Ingrid Zellner erweist sich als eine Erzählerin von großer Einfühlungskraft, ohne jemals ins Sentimentale zu verfallen.
Und so ist auch die Geschichte, die sie in ihrem Krimi erzählt, zwar zutiefst anrührend aber zu keinem Zeitpunkt kitschig-süß.
Ihre Charaktere zeichnet sie sehr glaubwürdig, sie sind in keiner Weise vollkommen, sind Einzelgänger wie Lona, aber auch skurrile Typen wie Dirks Schwester Claudia und deren Chef Marten, Besitzer eines Tattoo-Studios. Sie machen Fehler, gehen falsche Wege, sehen aber ihre Irrtümer irgendwann ein und lernen daraus. Und sie entwickeln sich weiter - allen voran Lona, die am Ende des Krimis nicht mehr dieselbe ist wie zu dessen Beginn.

Ja, die Handlung ist spannend, offen bis zum Schluss, der nicht nur für Lona mit einer faustdicken Überraschung aufwartet.
Manch einer mag die Aneinanderreihung von Zufällen, mit denen die Akteure konfrontiert werden, als unrealistisch und zuviel des Guten ansehen, - doch sollte man nicht vergessen, dass man es hier mit einer fiktiven Geschichte zu tun hat, die keineswegs die Realität wiederspiegeln muss! Die Zufälle passen in die Handlung, machen sie spannend und liefern den Überraschungseffekt, den sich doch die meisten Leser von einem guten Kriminalroman erwarten.

Und genau das ist "Gnadensee"! Ein guter Krimi, der dazu noch schön ist!
Eine unbedingte Weiterempfehlung für jeden Leser, der die Schönheit auch in einem Spannungsroman zu schätzen weiß