Rezension

Von Kriegsgewinnlern, Hochstaplern und verlorenen Kindern

Spiegel unseres Schmerzes - Pierre Lemaitre

Spiegel unseres Schmerzes
von Pierre Lemaitre

Bewertet mit 4.5 Sternen

Mehreren Schicksalssträngen folgt  Lemaitre im Abschlussband seiner Trilogie. Louise arbeitet in der Woche als Lehrerin und bedient seit ihrer Jugend samstags im La petite Bohème des Monsieur Jules im Pariser Montmartre, wo sich regelmäßig als Stammgast Doktor Thirion einfindet. Monsieur Jules und Louise arbeiten als eingeschworenes Team zusammen, das Restaurant ist ohne sie so wenig vorstellbar wie der Patron und seine Aushilfe ohne einander. Louise erinnert sich noch an den kriegsversehrten Édouard, der im zweiten Band der Trilogie untertauchen musste, weil er mit einem Kumpel einen gigantischen Betrug mit Kriegerdenkmälern aufgezogen hatte. Von dem Moment an, auf den der Doktor nur gewartet zu haben scheint, um sich vor Louises Augen zu erschießen, entwickelt sich ein komplexes Familiendrama, das einen Bogen schlagen wird zu Louises Bruder Raoul, der an der Maginot-Linie als Elektriker bei den Pionieren eingesetzt ist. Raoul, der als König aller Schieber, Spieler und Kriegsgewinnler die gesamte Versorgung der Truppe zu kontrollieren scheint, teilt sich die Stube mit dem Mathematiklehrer Gabriel, dessen Dienstgrad: Fernmelder. Raoul lebt mehr als üppig davon, dass ohne Schnürbänder in den Stiefeln und ohne Prostitution keine Kriege zu führen sind. Beide Männer scheinen an der Front eine ruhige Kugel zu schieben, während ihre Altersgenossen ihr Leben riskieren. In Rouen ist derweil Rechtsanwalt Desiré Migault, frisch aus Paris eingetroffen, in einem Sensationsprozess aktiv. Als der Gerichtspräsident im Verzeichnis der Pariser Anwaltskammer keinen Migault finden kann, scheint  dessen raffiniert ziselierte Identität zu Staub zu zerfallen.

Neben der atmosphärisch gelungenen Darstellung von Louises Flucht vor der deutschen Wehrmacht aus Paris zeichnet Lemaitre ein makabres Bild von Hochstaplern und Schwarzhändlern, die in Kriegs- und Notzeiten immer auf die Füße zu fallen scheinen. Parallel dazu klärt sich das Schicksal von Louises Mutter Jeanne, die Anfang des 20. Jahrhunderts  in einem bürgerlichen Haushalt diente, zu einer Zeit als der „gnädige Herr“  sich straflos an Dienstmädchen vergreifen und sie davonjagen konnte, nachdem er sie geschwängert hatte.  Louise muss sich aus diesem Anlass mit dem „Weggeben“ von Kindern auseinandersetzen, mit dem die sexuelle Gewalt vertuscht wurde.  Allein Jeannes Schicksal ermöglicht Lemaitres Lesern bereits einen neuen Blick auf die Kriegs- und Vorkriegszeit. Die Flüchtlingsströme führen die Figuren wieder zusammen, als Frankreich von den Deutschen besetzt wird. Es geht u. a. um kleine Rädchen im Getriebe, Heldenmut im Kleinen, den Zufall, ob jemand  zum Opfer oder zum Antreiber der Ereignisse wird, und um das Schicksal von Kindern, die in Notzeiten verloren gehen.

All das erzählt Lemaitre mit jenem Sprachwitz seiner Figuren, dem in der deutschen Übersetzung schon mal die Gäule durchgehen können. Wie bereits in „Wir sehen uns dort oben“ balancierte der Roman für meinen Geschmack haarscharf an der Grenze zur Pietätlosigkeit, mit der Kriegsteilnehmer und Kriegsopfer dargestellt wurden. Durch die komplexen Verbindungen der zahlreichen Figuren hatte ich den Eindruck, drei Romane in einem zu lesen. Der Epilog führt die Fäden schließlich zufriedenstellend zusammen und klärt, welche Orte und Ereignisse reale Vorbilder haben.