Rezension

Von Menschenhand

Still Chronik eines Mörders - Thomas Raab

Still Chronik eines Mörders
von Thomas Raab

Bewertet mit 5 Sternen

Groß war die Glückseligkeit der werdenden Mutter, überbordend ihr Frohsinn. Voll des Beifalls sah sie das Treiben des Gemahls, die Instandsetzung des alten Bauernhofes zu einer Oase des Wohlfühlens…Dankbar ihr Erdulden des sich wochenlang Übergeben-Müssens. Selig war sie, wenn das in ihr heranwachsende Leben sich streckte, seine Fäustchen, Beinchen gegen die mütterlichen Grenzen stemmte. Überbordend ihr Frohsinn, zum Ausdruck gebracht durch das unermüdliche Geträller ganzer Litaneien an Kinderliedern. Geträller mit gellendem Ton. Endlosschleifen oft derselben Zeilen… Und der noch ungeborene Karl tat es Charlotte mit seinen Möglichkeiten gleich: Tobte die Mutter, tobte auch das Kind, erhob die Mutter ihre Stimme, reagierte auch das Kind, boxte, trat, im Laufe der Schwangerschaft immer lebhafter, immer schmerzhafter. Erst wenn es Zeit war, zu Bett zu gehen, erst wenn Charlotte endlich schlief, wurde es endlich auch ruhig in ihr. Als wären Mutter und Kind eine Einheit, verbunden wie Herz und Seele, so erschien es ihr. Und sie lag falsch. Völlig falsch.

Karl Heidemann ist ein Kind mit einem übersensiblen Gehörsinn. Überdeutlich für ihn selbst das leiseste Geflüster, unerträglich und schmerzhaft für ihn alle normalen Alltagsgeräusche. Was tut nun ein Baby, wenn das „beruhigende“ Singen von Kinderliedern durch seine Mutter bei ihm starke Kopfschmerzen auslöst? Richtig – es schreit. Was tut eine Mutter, wenn ihr Baby unaufhörlich schreit und sich nicht beruhigen lässt? Richtig – sie verzweifelt. Keine glückliche Kombination. Lange Zeit gibt es nur eins, was Kind und Mutter vorübergehende Linderung verschaffen kann… 

»Das Glück der Mutter, für einen Moment. Ihr Kind in den Armen ging Charlotte ins Bad, verschloss ihm mit knetbarer Masse die Ohren, während plätschernd die Wanne einlief… Dort saß er ein Weilchen, aufrecht, stolz wie inmitten einer selbstgebauten Seifenkiste, seine kleine, aufgeblasen wirkende Hand an den Rand gelegt. Irgendwann ein langsames Zurücksinken, ein Betten des Kopfes auf die Oberfläche, als wäre sie ein Kissen. Das Wasser stieg ihm über die Ohren, bis hinauf an den Augenrand. Ein kurzes, gestrecktes Schweben, ein tiefes Luftholen, das Lösen der Hand, dann ein Abwärtsgleiten, die Lider offen.

Karl Heidemann war glücklich. Lauter zwar, dröhnender, jedes in der Flüssigkeit erzeugte Lärmen, das Pulsieren seines eigenen Herzens, das Rauschen in seinen Ohren, das Pochen seiner Fersen an das Emaille. Von außen aber verlor alles, umgeben von einer dumpfen Hülle, an Intensität. Federleicht wurden seine Gliedmaßen, sein behäbiger Körper, schwer nur sein Kopf, sein Brustkorb, wenn er ihn heben und Luft holen musste, um erneut frei sein zu können. Frei für diesen einen, in seinem Körper festgehaltenen Atemzug.«

 

Bald wird den Eltern klar, dass das Leben für ihr Kind nur in der Isolation möglich ist. Von nun an bleibt Karl im Keller des Hauses, lebt dort friedlich vor sich hin, jeden einzelnen Tag, Jahr für Jahr. Und kann nicht verstehen, wie er so eine Belastung für seine Mitmenschen sein kann.

»Karl aber verstand jedes Wort, hörte seine Großeltern, die keinen Hehl daraus machten, dem so schwer geprüften eigenen Kind im Nachhinein eine Totgeburt gewünscht zu haben. Er … erfuhr von dem gewünschten Glück namens Karl Heidemann und dem wunschlosen Unglück, ebenfalls namens Karl Heidemann, erfuhr von dem Leid seiner Mutter und dem Verursacher dieses Leides, wieder er selbst.

Er, in dessen Geistesgut es keine bösen Absichten gab. Weder dachte er schlecht von seinen Eltern, noch war es ihm ein Wunsch, anderen Schaden zuzufügen, sie zu verletzen. Allein davon zu hören, wo er doch ohnedies so zurückgezogen lebte, rief große Unsicherheit in ihm hervor. Was hatte ihn vom Gewollten zum Ungewollten werden lassen? Karl wusste es nicht. Und er würde diese Unwissenheit auch nie wieder vergessen können.«

 

Der Leser ahnt, dass dies nicht auf Dauer gutgehen kann. Ich litt mit Karl mit und litt mit den Eltern. Absolut gefesselt war ich und mochte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Ständig war da dieses unterschwellige Gefühl, dass man sich auf etwas Schreckliches zubewegt, langsam aber unausweichlich. Hinzu kommt die Faszination seiner Gedankengänge, die doch alle so friedlich, liebevoll und mitfühlend sind! Kein gehetzter Wahnsinn, kein psychopathisches Gestammel, wie man es schon so oft an anderen Stellen gelesen hat. Nein, Karl ist ein so netter Mensch – und dadurch umso furchterregender. Wie kann ich das Gefühl beschreiben, dass das Buch bei mir auslöste? Ein beständiges Schauern vielleicht? Absolut großartig!

 

Karl hinterlässt auf seinem Weg eine Spur des Schreckens und der Leser folgt ihm, insgesamt über gut drei Jahrzehnte lang. Ebenfalls auf Karls Spur: Ermittler Horst Schubert. Wie findet man einen Mörder, wenn keiner der üblichen Ermittlungsansätze hier weiterhilft? Wenn sich kein vorstellbares Motiv finden lässt? Denn Karl – er meint es doch nur gut! 

»Wissbegierig sein Suchen. Ein Suchen nach jenem Ort, jenem Geist, jenem wundersamen Kunstgriff, der seine Mutter verzaubert, mit Frieden und Schönheit beschenkt hatte: dem Tod.«

 

Fazit: Ich möchte jeden einladen, sich auf die Lebensgeschichte von Karl Heidemann einzulassen. „Still“ verspricht Hochspannung, Faszination und ein einmaliges Leseerlebnis.

 

»Ja, sie tat gut, die eingekehrte Ruhe. Ruhe, für die er selbst gesorgt, Frieden, den er selbst gebracht hatte.

Der Tod also konnte geschenkt werden.

Von Menschenhand.«