Rezension

Von Zoonosen, Zwischenwirten und dem Lernen aus Fehlern der Vergangenheit

Spillover - David Quammen

Spillover
von David Quammen

Bewertet mit 5 Sternen

Mit Spillover bezeichnen Virologen das Überspringen einer Infektionskrankheit von einem Zwischenwirt/Reservoirwirt auf ein anderes Lebewesen. 60 Prozent aller neu auftretenden Infektionskrankheiten waren beim Erscheinen des Buches Zoonosen (vom Tier auf den Menschen und von Menschen auf Tiere übertragbar) und 72 Prozent davon stammten von Wildtieren. David Quammen ist als Wissenschaftsjournalist gemeinsam mit Forschern durch Dschungel marschiert und in Höhlen gestiegen bis an die Quellen dieser Seuchen. Dabei hat er Menschen kennengelernt, die für die Forschung brennen, weil ihr spezielles Fachgebiet eben „ jemand erforschen muss“ (Luby S. 33), und die interdisziplinäres Denken und ihre weltweite Vernetzung verbindet.

Quammen beginnt seinen Wissenschaftskrimi mit dem kurzen und heftigen Ausbruch des Hendra-Virus 1994 in Australien. Damit konstruiert er geschickt einen Spannungsbogen, weil man sich als Leser fragt, was der begrenzte Ausbruch einer tödlichen Seuche mit Ebola, SARS, HIV und weiteren Seuchen verbindet, die er später  ausführlicher darstellen wird. Das Auftreten des Hendra-Virus zeigt wie im Modellbaukasten Faktoren, die Seuchenausbrüche kennzeichnen: Ein Zwischenwirt trifft auf infizierbare Tiere, Menschen werden infiziert, Experten sind vom Ausbruch völlig überrascht, ein Zusammenhang zu einem kilometerweit entfernten späteren Ausbruch lässt sich zunächst nicht herstellen. Das Hendra-Virus infiziert außer den erkrankten Pferden sofort die Tierärztin und die Pferdezüchter, verläuft teils tödlich, Flughunde leben in größerer Kolonie als Reservoirwirte auf einem nahegelegenen großen Baum und die behandelnden Tierärzte werden von dem Ausbruch völlig überrascht. Offen bleibt lange, wie und warum das Virus weit entfernt vom Ort Hendra wieder aufflammen wird – und warum einige Menschen dagegen immun zu sein scheinen und bei ihnen z. B. trotz Kontakt zu Fledertieren keine Antikörper nachweisbar sind.

Seuchen des 20. Jahrhunderts konnte man lange Zeit für begrenzte Ereignisse in entlegenen tropischen Gebieten halten. Ähnlich wie bei Ebola konnten Menschen als verfügbaren Wirte so schnell sterben, dass sich das auslösende Virus die Lebensgrundlage entzieht und sich nicht weiterverbreiten konnte. Diese öffentliche Wahrnehmung änderte sich spätestens 2003 beim Ausbruch von SARS in China. Der SARS-Ausbruch verknüpfte die „entlegenen Waldregionen“ in wenigen Stunden mit Millionenstädten der übrigen Welt. Rückblickend liefert der Verlauf der SARS-Infektion uns Faktoren, die beängstigend dem 2020 aktuellen Ausbruch von SARS-CoV-2  ähneln: Die ersten Erkrankten waren 2003 Köche und Markthändler mit Kontakt zu Hühnern u. a. Tieren, eine hohe Zahl von Ärzten, Pflegepersonal und Angehörigen werden infiziert und sterben, Superspreader beschleunigen den Ausbruch, die Infektion wird durch Flugpassagiere über weite Strecken verbreitet - und es haperte 2003 bereits an schneller, ehrlicher internationaler Kommunikation des Ausbruchs.

Quammen vermutet nach seinen Recherchen bereits 2012, dass ein neues Virus aus einem Dschungel oder aus Südchina stammen würde. Seine Gesprächspartner haben bereits vor 2012 betont: es wird den nächsten Pandemieausbruch, den „Big One“, geben, ein Fledertier (Fledermaus, Flughund)  wird rein rechnerisch der Reservoirwirt sein. Die Bevölkerungsentwicklung, das Zusammenleben in Millionenstädten und unsere Lebensweise der Zerstörung von Lebensräumen und der Massentierhaltung bereitet dem erwarteten neuen Virus damals gerade den Weg. Nicht Viren gelangen „plötzlich“ in den Lebensraum der Menschen (sie existierten lange, bevor wir sie wahrgenommen haben), sondern alle Lebewesen teilen sich einen gemeinsamen Lebensraum. 2020 sollte sich im Rückblick auf 2003 kein Politiker mehr auf die Schulter klopfen und behaupten können, er/sie hätte den von Quammen zitierten Wissenschaftlern zugehört und so Fehler der Vergangenheit vermieden.

Am Beispiel von Ebola und HIV berichtet Quammen umfassend, spannend und stets respektvoll gegenüber seinen Gesprächspartnern von Wegen und Irrwegen der Forschung, warum Mathematik in der Virologie so „elegant und provokativ“ (Anderson/May S. 309) sein kann, was wir noch heute aus der Malariaforschung lernen können, aber auch aus Arbeitsunfällen in Laboren. Wer offen dafür ist, kann hier viel über Fehlerkultur und Kritikfähigkeit lernen und wie Wissenschaftler immer wieder Annahmen revidieren und weiße Stellen in ihren Erklärungen mit neuen Fakten füllen. Im Fall von HIV reicht das nachträgliche Aha-Erlebnis zurück bis ins Jahr 1908.

Durch den Reportage-Stil des Wissenschaftsjournalisten und seinen Blick auf die Persönlichkeit des jeweiligen Wissenschaftlers liest sich Quammens Reise zu Primaten und Fledertieren hochspannend. Das vermittelte Wissen bot mir insbesondere viel Neues über die HIV-Forschung und das Zusammentreffen von Mensch und Primaten – und das populär vermittelte  Wissen bleibt auch hängen.

Zugegeben, ich war etwas skeptisch, ob ein Buch von 2012 aus 500 Seiten reinem Text und einigen Landkarten mich heute noch fesseln könnte. Die Konzentration auf den Wissensstand von 2012 erweist sich  in der aktuellen Situation offenbar als Stärke des Buches. Wer mehr über die Verbindung zwischen Virus, Wirt und Mensch wissen möchte als Schlagzeilen vermitteln können, sollte hier zugreifen.

Spillover erschien im Original 2012 , die deutsche Ausgabe bei DVA (978-3421043658) 2013, der unveränderte Nachdruck 2020 bei Pantheon.