Rezension

Vorwiegend männliche Lebenswelt im ländlichen England

Der längste, strahlendste Tag -

Der längste, strahlendste Tag
von Benjamin Myers

Bewertet mit 4.5 Sternen

In seinen Kurzgeschichten bleibt Benjamin Myers Stoffen und Figuren seiner Romane treu, alten und jungen Männern, mit der englischen Landschaft verwachsen. In der titelgebenden Story „Der längste, strahlendste Tag“ lässt er seine Leser zunächst im Unklaren, ob die auftretende Nomadengruppe in der Vergangenheit lebt, in einer dystopischen Zukunft oder einem zeitlosen Gleichnis dient. „Wien“ versetzt uns in die Vergangenheit, als ein Schriftsteller in Pieter Bruegels „Die Jäger im Schnee“ eintritt und als Icherzähler mit „Bernt, Elrik und dem Hundegespann“ auf die Jagd nach Wildfleisch geht. Auch die kleine Gruppe, die mit einem Fuhrwerk eine Bronzeglocke zu einem römischen Schiff transportieren soll, bewegt sich nahe dem Hadrianswall auf historischen Wegen.

„Der alte Ginger“, „Zehn“ und „Der letzte Apfelpflücker“ setzen knorrigen Einzelgängern ein Denkmal, ohne deren Erfahrung und Zuverlässigkkeit auch der wohlhabendste Großgrundbesitzer nicht existieren könnte. Von Landbesitzern und ihren Saisonarbeitern der Neuzeit erzählt Myers. Ohne (ausländische) Arbeiter würden im Land längst keine Äpfel mehr gepflückt und keine Kartoffeln gerodet. Der jugendliche Icherzähler erfährt am Schicksal von Ray-Ray, dass Erntearbeiter oft gute Gründe haben, einen anderen Namen anzunehmen und alle Brücken hinter sich abzubrechen. Letzlich profitiert sein Onkel wirtschaftlich davon, dass sein bester Arbeiter wohnungslos und damit völlig vom Arbeitgeber abhängig ist. Englische Landlords, die direkt dem Bilderbuch entstiegen zu sein scheinen, hängen auch in der Neuzeit oft von Einkünften aus Jagdtourismus ab. Zum meist wenig glamourösen Landleben gehört die direkte Konfrontation mit Fuchs, Dachs, Eule oder Rabe, die in Myers Stories meist makaber bis grausam verläuft.

Ein Museumswärter hadert in Gedanken mit menschlicher Gier, die zum Aussterben ganzer Tierarten führte. Die Begegnung eines Journalisten mit einer ergrauten Folksängerin gerät zur gnadenlosen Abrechnung mit der gewalttätigen Seite einiger männlicher Stars der Branche, zu deren Gunsten im Fall der Ex-Sängerin eine Täter-Opfer-Umkehr konstruiert wurde. Eine Frau sucht den Tod vor männlicher Gewalt und Geringschätzung an der Grenze einer unzugänglichen Region, die zugleich Grenze unserer Zivilisation und der unbeschwerten Kindheit der Frau sein könnte.

Myers Figuren, oft Icherzähler, müssen sich mehr oder weniger erfolgreich Veränderungen anpassen und dabei ihre Grenzen ausreizen – oft mit fatalen Folgen. Themen sind Landwirtschaft, Tiere, das Wüten von Naturgewalten, Vater-Sohn-Beziehungen, nostalgische Jugenderinnerungen, aber auch Zeitschleusen und zeitlose Ereignisse, die beim Lesen erst verortet werden müssen. Myers „kann“ neben Romanen offensichtlich auch Kurzgeschichten – bis herunter zur Shortshort-Story aus wenigen Sätzen.