Rezension

Wächst man hinein?

Jesolo - Tanja Raich

Jesolo
von Tanja Raich

Bewertet mit 5 Sternen

„In jedem Film, den ich mir ansehe, geht es jetzt um Kinder. In jeder Werbung, Zeitung, in jedem Buch, auf jedem Plakat: Familien, Kinder, Mütter oder Schwangere. Als ob es im Leben nichts anderes geben würde, als ob die Fortpflanzung das einzige Wunder wäre, zu dem der Mensch fähig ist, als ob man uns ständig vor Augen führen müsste, dass das unsere wahre Bestimmung ist.“ (S. 79)

Andrea ist 35 Jahre alt und steht mitten im Leben. Das, was man in ihrem Alter angeblich erreicht haben sollte – Haus, Kinder, Hund – hat sie nicht, aber es fehlt ihr auch nicht. Ihre Beziehung ist okay, der Job erträglich. Keine Highlights, aber auch keine großen Enttäuschungen, sie ist zufrieden. Doch ihr Umfeld lässt ihr keine Ruhe: Wann zieht ihr endlich zusammen? Ihr seid doch schon so lange ein Paar! Denkt ihr an Kinder? Du bist ja auch nicht mehr die Jüngste…? Andrea steht über diesen Themen, lässt sich von solchen Fragen nicht aus der Ruhe bringen, möchte ihre Freiheiten nicht aufgeben. Bis sie ungewollt schwanger wird und ihre Lebenspläne ihr nach und nach entgleiten…

Wow, was für ein Buch. Hier traut sich jemand, das Unsagbare aufzuschreiben, auszusprechen und laut hinauszuschreien die Welt! Und das allein durch einen eindringlichen, unaufgeregten, leisen Stil. Ja, es gibt Frauen, die keine Kinder wollen. Kein Haus mit den Schwiegereltern, keinen Garten auf dem Land, keinen Hund in der Hundehütte und erst recht kein Kinderlachen aus dem ehemaligen Arbeits- und Gästezimmer.  Doch was tun, wenn der Partner dies alles braucht, um glücklich zu sein? Tanja Raich greift hier ein wichtiges Thema auf: Wie sehr verbiegen wir uns für einen geliebten Menschen, für unser gesamtes Umfeld? Wie weit lassen sich die eigenen Träume dehnen? Kann es bei so grundlegenden Lebensfragen Kompromisse geben?

„Ich sehe meinem Mund dabei zu, wie er sich zu einem Ja öffnet. Jedes Mal kommt wieder derselbe Ton heraus […]. Ja, wir kommen gerne zum Essen. Ja, ich freue mich über Georgs Wiege, mein Ja, ich sollte weniger arbeiten, mein Ja, ich liebe dich auch. Mit jedem Ja rutsche ich weiter in die Scheiße hinein. Ich stehe unter der Dusche. Ja, schreie ich. Das Wasser ist so heiß, dass es auf meinem Körper brennt. JA. JA. JA. JA.“ (S. 144/145)

Mich hat das Buch sehr beeindruckt. Man muss die Ansichten der Protagonistin nicht teilen, kann komplett anderer Meinung sein. Faszinierend ist, dass sich dennoch mit der Zeit Verständnis entwickelt für ihre Situation und Mitgefühl. Messerscharf seziert die Autorin die Gedankenwelt dieser werdenden Mutter, die sich so falsch in ihrer neuen Rolle, in ihrem anschwellenden Körper fühlt. Ebenso atemlos wie hilflos verfolgt man als Leser den Strudel aus Streitgesprächen, Zusammenziehen, gemeinsamen Terminen beim Frauenarzt, einer Kreditaufnahme, dem Möbel-Shopping mit der Schwiegermutter…, der sich schneller und schneller dreht und Andrea immer weiter mit sich zieht. Man möchte laut HALT brüllen, Andrea aus diesem irrsinnigen Karussell herausreißen, ihr wieder Raum zum Atmen geben. Gleichzeitig möchte man sie schütteln und anschreien, damit sie endlich etwas sagt, endlich über ihre eigentlichen Träume und Wünsche für sich, die Beziehung und die Zukunft spricht.

„Du wirfst mir auch nicht diesen Blick zu, von früher, der uns zu Verbündeten machte, der mir sagte, dass wir zusammengehören, dass wir eine Einheit sind, bei der niemand mitzureden, niemand mitzuentscheiden hat. Dieser Blick, der mir sagte, lass sie reden, lass uns tun, wozu auch immer wir Lust haben, ist verschwunden, und in dein Gesicht ist ein Ernst eingekehrt, wie er auch in den Gesichtern deiner Eltern zu finden ist.“ (S. 46)

Der Schreibstil ist absolut genial. Gewöhnungsbedürftig, aber so gut. Jedes Wort sitzt, keins ist zu viel. Tanja Raich hat ein Gespür für brisante Themen unserer Zeit, sowie psychologisches Feingefühl für die komplizierte, ambivalente Gefühlswelt ihrer Protagonistin. Das ist Gegenwartsliteratur auf den Punkt gebracht. Dieser Roman erzeugt Gänsehaut, Schockstarre, Kopfschütteln, Wut und Aha-Momente. Er ist ehrlich, schonungslos und bedrückend, soviel steht fest. Dass es nicht mein letzter Roman dieser Autorin ist (und hoffentlich auch nicht ihrer!), steht für mich ebenso fest.

„Man wächst hinein. Schritt für Schritt. Alles wird sich weisen. Zerbrich dir nicht den Kopf. Nicht zu viel nachdenken. Mach dich nicht verrückt. Alles wird sich ergeben. Alles wird gut werden. Das Schönste im Leben. So eine Liebe hast du noch nie gespürt. Nachher weißt du, es war das Beste, was dir passieren konnte.“ (S. 92)

 

Kommentare

Emswashed kommentierte am 10. Mai 2019 um 08:42

Der Titel deutet nichts dergleichen an, deshalb überrascht Deine Rezi. Ähnliches geschah auch mit mir, als ich mit 34 das erste Mal schwanger wurde... keiner fragte mehr, wie es mir damit ginge. Alles fügt sich mit der Zeit, aber ich würde gern noch von anderen darüber lesen.

LySch kommentierte am 10. Mai 2019 um 11:02

Das Buch ist ein Politikum. Es begleitet Andrea komplett durch ihre Schwangerschaft, es reißt die Probleme innerhalb dieser Zeit auf und es ist sehr bedrückend. Aber so gut. Also ich kann es dir empfehlen, aber die Zeit danach wird nicht thematisiert.