Rezension

Wahn oder Wirklichkeit?

Die Zelle - Jonas Winner

Die Zelle
von Jonas Winner

Bewertet mit 3 Sternen

Im Mittelpunkt von Jonas Winners neuem Roman „Die Zelle“ steht Sam Grossman. Zu Beginn der eigentlichen Romanhandlung ist der 11jährige gerade von London nach Berlin umgezogen. Bevor Sam mit seiner Mutter ankommt, hat der Vater mit dem älteren Sohn schon die angemietete Jugendstilvilla im Grunewald bezogen. Sam lässt in London Freunde zurück und befürchtet sechs langweilige Ferienwochen im hochsommerlichen Berlin. Es wird ganz anders kommen.
Eines Tages folgt er seinem Vater, der im Garten in einer Hütte verschwindet. Sam entdeckt eine Falltür und ein unterirdisches Stollensystem, das zum Teil aus dem Zweiten Weltkrieg stammt, teilweise aber neueren Datums ist. Er findet eine Bowlinghalle, eine voll eingerichtete Bar und einen Plattenspieler und probiert alles aus. Dann hört er ein seltsames Pochen. Seinen Vater entdeckt er nicht mehr, dafür ein asiatisch aussehendes Mädchen, kaum älter als er, das in einer Zelle eingesperrt ist. Als er am nächsten Tag zurückkehrt, ist das Mädchen verschwunden.
Sam hat sofort seinen Vater im Verdacht, der sich in letzter Zeit stark verändert hat. Er ist abweisend und hat nie Zeit, da seine musikalischen Auftragsarbeiten ihn zu sehr Anspruch nehmen. Er komponiert unheimliche Musik zu düsteren Filmen, die der Junge nicht sehen darf. Sam ist völlig verstört von seinem Erlebnis und möchte darüber sprechen, aber weder seine Mutter noch sein älterer Bruder Linus wollen ihm zuhören. Irgendwann erträgt er sein Geheimnis nicht länger und hat einen Zusammenbruch. Da ihm niemand glaubt und er für psychisch krank gehalten wird, muss er eine Therapie machen. In der Nachbarstochter Marina findet er eine Freundin, der er sich anvertraut, aber auch sie spricht über das, was sie erfahren hat und bringt damit die Dinge ins Rollen. Es kommt zu einer blutigen Eskalation.
Der Roman hat einen Prolog, in dem Sam Grossman ankündigt, über die fast zwanzig Jahre zurückliegenden Ereignisse schreiben zu wollen, um sich kurz vor der Entlassung eines noch unbekannten Straftäters davon zu befreien. Seine Geschichte zeigt, dass er schon als Kind Schwierigkeiten hatte, Wahn und Wirklichkeit zu unterscheiden. So geht es allerdings auch dem Leser. Der Autor legt falsche Spuren, die Verdächtigen wechseln. Kursiv gedruckte Einschübe schildern die Vorbereitung und Durchführung eines grauenhaften Verbrechens mit Details, die eigentlich nur Täterwissen sein können. Der Leser fragt sich allerdings nicht nur einmal, ob die Tat stattgefunden hat oder nur in der Vorstellung eines Wahnsinnigen existiert. Der Epilog bringt überraschende Wendungen und löst das Rätsel teilweise, beantwortet aber längst nicht alle Fragen.
Dem Autor ist ein spannender Psychothriller mit starker suggestiver Wirkung gelungen, der erschreckende Abgründe der menschlichen Seele aufzeigt. Die Beschreibung des Verbrechens ist mit ihren ekligen Details allerdings nach meinem Empfinden grenzwertig.