Wahn oder Wunder?
Bewertet mit 5 Sternen
Lib Wright fällt aus allen Wolken, als sie erfährt, für welche Aufgabe sie ins erzkatholische, ländliche, nasse Irland gereist ist. Jung verwitwet hat Lib sich von der berühmten Florence Nightingale zur Krankenschwester ausbilden lassen. Auf ihr Können und ihre Disziplin ist sie stolz. Doch jetzt soll sie nicht wie erwartet jemanden pflegen, sondern nur zwei Wochen lang beobachten - und im besten Fall gleich noch ein göttliches Wunder bezeugen. Denn die kleine Anna O'Donnel behauptet, seit ihrem elften Geburtstag vor vier Monaten nichts mehr gegessen zu haben und gilt einigen Leuten deshalb fast schon als Heilige. Lib als Frau der Wissenschaft ist entsetzt über das Treiben der O'Donnels und fest entschlossen, den Schwindel aufzudecken. Doch trotz größter Wachsamkeit findet sie nichts.
Herz und Seele dieses spannenden Romans ist ohne Zweifel Lib, aus deren Perspektive alles erzählt wird. Sie ist resolut, diszipliniert, manchmal ein wenig streng und überheblich aber das macht einen Teil ihres Charmes aus. Ich wäre in ihrer Situation höchstwahrscheinlich ebenso überheblich gewesen. Wie sich ihr anfänglicher Ehrgeiz aber nach und nach in Sorge um das Wohlergehen der kleinen Anna wandelt war phantastisch geschildert. Ebenso die Missverständnisse, zu denen es zwischen der weltlichen Engländerin Lib und den zutiefst gläubigen Iren kommt. Hier musste ich das eine oder andere Mal schmunzeln. Insgesamt blieb einem das Lachen aber eher im Halse stecken. Emma Donoghue schildert bedrückend plastisch, auf welche Abwege tiefer, unreflektiert Glaube führen kann. Sei es bei einem Arzt der das körperliche Leid eines Kindes verklärt, weil er an ein Wunder glauben will. Oder bei Eltern, denen ein totes heiliges Kind lieber scheint, als ein lebendiges, das "sündigt".
Mir hat "Das Wunder" wirklich sehr gut gefallen. Spannend, rätselhaft und mit gelungenen Personal hat mich der Roman in seinen Bann gezogen. Definitiv eine Empfehlung.