Rezension

Wahnsinnig berührend!

Ein ganzes halbes Jahr - Jojo Moyes

Ein ganzes halbes Jahr
von Jojo Moyes

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt

In Zeiten einer Rezession ist es nicht leicht einen Job zu finden – vor allem nicht als 26-jährige Ex-Kellnerin ohne jegliche Qualifikation. Bei der Wahl zwischen Poledance, Seniorenpflege und der Arbeit in einem Schlachthof kommt Louisa Clark die Ausschreibung zur Betreuung eines Tetraplegikers gerade recht. So trifft sie auf Will, der nach einem Unfall vor 2 Jahren dieses undankbare Dasein fristen muss. Die beiden kommen nicht gerade gut miteinander aus, aber Lou kann sich nicht erlauben, auf das Geld zu verzichten. So freundet sie sich mit dem Gedanken an, dass ihr Vertrag eh nur auf ein halbes Jahr befristet ist – jedenfalls bis zu dem Tag, an dem sie erfährt, dass nach Ablauf der Frist Will sein Leben beenden will…

Charaktere

Louisa Clark ist außergewöhnlich anders. Sie lebt ohne Plan und akzeptiert, ohne groß darüber nachzudenken, dass ihre langjährige Beziehung zum „Marathon-Mann“-Patrick genau an dem Punkt stagniert ist, an dem die meisten Paare heiraten – oder wenigstens mal zusammen ziehen. Die Wahl ihrer Kleidung muss ihrer Stimmung entsprechen, nicht der angesagten Mode, wodurch immer mal wieder skurrile Kreationen zustande kommen. Sie hat eine Lebensfreude, die ansteckend ist und lässt sich selten wirklich runterziehen. Sie ist chaotisch, tollpatschig und herrlich selbstironisch. Ihr steter Drang zu quasseln, ist genauso anstrengend wie erheiternd.

Will Traynor hatte alles, was man sich nur wünschen kann. Er war von Geburt an wohlhabend, sah gut aus, hatte Erfolg im Beruf – und bei den Frauen. Er war der reinste Abenteurer, wollte alles sehen und erleben. Gleichzeitig war er sehr gebildet, wusste klassische Musik und ein gutes Buch zu schätzen – und hatte allgemein zu allem eine Meinung. Umso härter traf ihn der Unfall, der sein Leben verändern sollte. Denn ein Dasein als Tetraplegiker kam für ihn überhaupt nicht infrage. Denn wenn die einzige Entscheidung, die er noch selbst treffen darf, die ist, ob er leben oder sterben will, dann wählt er den Tod…-

Eigene Meinung

Lange habe ich daran gezweifelt, ob „Ein ganzes halbes Jahr“ von Jojo Moyes etwas für mich sein könnte. Wer meinem Blog folgt, hat schnell gemerkt, dass das nicht gerade mein bevorzugtes Genre ist, also war es wohl nicht weiter verwunderlich, dass ich es die letzten Wochen geschafft habe, diesen Roman gekonnt zu ignorieren. Als mich dann die Nachricht erreichte, dass ich es als Wanderbuch erhalten würde, dachte ich mir, “Jetzt oder nie“.

Dank Moyes wahrhaft wunderschönem und bildhaftem Schreibstil war ich binnen weniger Minuten in der Geschichte eingetaucht und jeglicher Zweifel beraubt. Ich habe selten erlebt, dass jemand gleichzeitig so fröhlich und so ernst, so anspruchsvoll und doch leichtgängig schreibt. Dass das Geschehen aus Lous Ich-Perspektive geschildert wird, bietet neben den wichtigen Einblicken vor allem die richtige Portion Humor.

Die Charaktere sind so natürlich, dass man das Gefühl hat, ihnen jederzeit auf der Straße begegnen zu können. Sie haben ihre Ecken und Kanten und wenn man ehrlich ist, ist keiner davon ein richtiger Sympathieträger (abgesehen vielleicht von Thomas, Lous Opa und Louisa). Natürlich erobert auch Will mein Herz, aber das gelingt ihm nicht durch seinen Charme. Besonders gut hat mir gefallen, dass jede Figur einen anderen Standpunkt zum Thema „Sterbehilfe“ vertritt. Manche sind strikt pro oder contra, andere wissen nicht, was sie davon halten sollen, manch einer versteht Wills Wunsch, möchte aber gleichzeitig nicht loslassen. Es ist ein schwieriges Thema, das hier auf unaufdringliche Weise behandelt wird.

Die Geschichte ist gleichermaßen wunderschön als auch unglaublich traurig. Ich bin froh, dass ich dieses Mal eine Ausnahme gemacht und mir vorher eine Rezension durchgelesen habe, sonst hätte ich anhand des Klappentextes nämlich nicht ersehen können, worum es wirklich geht und man sollte sich schon darüber im Klaren sein. So leicht es sich auch lesen lässt, so schwer ist es doch zu verdauen und das sollte man dann nicht unter Stress oder in der Mittagspause tun.

Ich hatte wahrlich Angst, dass die Thematik die Stimmung drücken würde doch das tut es ganz und gar nicht. Während man Lou und Will auf ihrem beiderseitigen Kampf begleitet, erlebt man die gesamte Palette der Gefühle; tatsächlich ist Mitleid dabei noch das Geringste. Moyes zeigt nämlich ganz klar, dass Will zwar ein furchtbares Schicksal erleidet, er aber immer noch ein Mensch ist und auch so behandelt werden will. Er will nicht dauerhaft mit Samthandschuhen angefasst werden, die mitleidigen Blicke oder das Getuschel im Hintergrund ertragen. Er besitzt keine Bewegungsfreiheit mehr, ist in allem eingeschränkt und hat eine Lebensqualität, die sich von Jahr zu Jahr verschlechtert – da möchte man doch wenigstens in dem wenigen, das man noch tun kann, normal behandelt werden. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass es zwischen Will und Lou des Öfteren zu witzigen Wortgefechten kommt, die den Großteil des Charmes dieses Romanes ausmachen.

Die Liebesgeschichte ist mit eine der Schönsten, die ich je gelesen habe. In Gegenüberstellung eines aktiven, sportlichen Mannes zu einem Tetraplegiker würden sich wohl die wenigstens für letzteren entscheiden, auch wenn dieser noch so charmant oder intelligent ist. Louisa tut es, doch nicht auf die kitschige, klischeehafte Weise, stattdessen auf ganz hohem Niveau mit großem Gefühl. Es ist die echte wahre Liebe und doch keine klassische Liebesgeschichte.

Fazit

Jojo Moyes konnte mich mit „Ein ganzes halbes Jahr“ schnell begeistern und wird mich doch lange nicht loslassen. Ich habe selten so viel gelacht und geweint gleichzeitig und war ganz bestimmt noch nie so gefesselt von Gegenwartsliteratur. Authentische Charaktere und eine Geschichte, die gut unterhält, doch gleichzeitig zum Nachdenken anregt, ist ein Erfolgsrezept, das ich jedem nur zu lesen empfehlen kann. Ich muss mich der Reihe der Begeisterungsrufe anschließen und betitel es mit Freuden als eines meiner Jahreshighlights. 5/5 Bücher!