Rezension

Warum?

Der Ernst des Lebens macht auch keinen Spaß - Christoph Wortberg

Der Ernst des Lebens macht auch keinen Spaß
von Christoph Wortberg

Bewertet mit 3.5 Sternen

Jakob ist tot. Ein Sturz von der Zugspitze beendete das vielversprechende Leben. Gerade hatte er das Abitur als Jahrgangsbester absolviert, sich für das Pharmaziestudium schon eingeschrieben, war auch sportlich sehr erfolgreich. Und nun: vorbei.

"Die Geräusche der Stadt, der Geruch des Sommers. Alles wie immer und nichts wie früher. Ich gehöre nicht dazu. Die Welt der anderen dreht sich weiter, meine Welt steht still." (S. 96)

Zurück bleiben seine fassungslosen Eltern und sein zwei Jahre jüngerer Bruder. Lenny. Der, der sein Leben lang im Schatten seines großen Bruders stand und nie eine wichtige Rolle in der Familie gespielt hatte. Der sich aber mit Jakob immer gut verstanden hat und für den nun die Welt stehen bleibt.

Trauer, Wut, Fassungslosigkeit begleiten Lenny fortan - und leise Zweifel, ob es sich bei Jakobs Tod wirklich um einen Unfall handelte. Als aus diesen Zweifeln Gewissheit wird, sucht Lenny nach Antworten ohne zu wissen, ob er diese finden wird. Bei seiner Suche stößt er auf Rosa, die ihm vielleicht die Antworten geben kann - und vielleicht auch mehr...

"Ein einziger Satz, der sich mit jeden Schritt tiefer in mich hineingräbt: Mein Bruder hat sich umgebracht. An seinem Tod ändert das nichts. An meinem Leben alles. Weil er nicht länger als der Bruder gestorben ist, den ich kannte. Weil er jetzt ein anderer für mich ist." (S. 76)

Als ich las, worum es in diesem Buch ging und dazu die gerade einmal 192 Seiten der Erzählung wahrnahm, regten sich in mir gleich Zweifel, ob es gelingen konnte, diesem Thema auf so engem Raum wirklich gerecht zu werden. Anfangs war ich positiv überrascht, denn die Szenen im Krankenhaus und auf dem Friedhof waren wirklich emotional und wirkten sehr authentisch.

Danach jedoch wurden - fast wie erwartet - viele Szenen und Themen im Grunde nur angerissen und entwickelten dadurch nicht die Intensität, die ihnen meiner Meinung nach hätte zukommen müssen. Dass die Entscheidung sich selbst umzubringen nicht aus heiterem Himmel gefällt wird, sondern sich dahinter stets ein Konglomerat an Gründen verbirgt, erklärt sich wohl von selbst. Viele der Gründe sind Lenny direkt klar, denn sie hängen mit seinem Elternhaus zusammen.

Wenig Entfaltungsmöglichkeiten, starre Erwartungshaltungen, enge Strukturen und die Tablettenabhängigkeit der Mutter kennzeichnen beispielsweise das Klima im Hause von Lenny und Jakob - und jedes Familienmitglied erfüllt dabei eine klar definierte Rolle, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Lenny sucht nun nicht nur nach Antworten, sondern beginnt auch, gegen das eingefahrene System zu rebellieren - sein Bruder fand einen anderen Ausweg. Aber warum so und nicht anders?

"Ein Held ist jemand, der (...) bereit ist, in den eigenen Abgrund zu schauen, ganz gleich, was er darin sehen wird. Der lacht, wenn es Zeit ist zu lachen, und weint, wenn es Zeit ist zu weinen. Und geht, wenn es Zeit ist zu gehen. Mein Bruder Jakob sagte: Ich bin ich und die anderen sind die anderen. Er sagte: Ich habe nur dieses eine Leben. Dann ging er. Mein Bruder war ein Held." (S. 7)

Viele Themen schwingen in diesem schmalen Jugendbuch mit. Die Situation, zurückgelassen worden zu sein. Trauer, Schuldgefühle, Schuldzuweisungen, Wut. Die Suche nach Antworten, die Tatsache der Unbegreiflichkeit, der Schmerz, wenn sich das Bild der geliebten Person verändert, die Einsamkeit. Die erste Liebe, Angst um jemanden, Selbstmordforen. Die Abnabelung vom Elternhaus, Pubertät, Rebellion, das Hinterfragen der eigenen Rolle. Zu viel, um wirklich ausreichend Raum zu erhalten auf den paar Seiten - aber als Diskussionsgrundlage im Rahmen einer Klassenlektüre durchaus vorstellbar.

Durch die Unterschiedlichkeit der Brüder wird in jedem Fall deutlich, dass es sehr verschiedene Wege gibt, mit belastenden Situationen umzugehen. Lenny jedenfalls nimmt sein Leben nun in die Hand, stellt vermeintliche Gegebenheiten in Frage und führt so Veränderungen herbei. Allein dies ist schon eine positive Blickrichtung, die dem Leser als Perspektive mit auf den Weg gegeben wird.

Der Schreibstil ist durch meist kurze Sätze geprägt, die einem in manchen Szenen wie kleine Schläge um die Ohren gehauen werden. Dadurch liest sich die Erzählung rasch und unkompliziert, nimmt den Themen dadurch zudem auch oft auch ein wenig von ihrer Schwere.

Auch wenn mich das Buch in der Umsetzung nicht komplett überzeugt hat, finde ich es wichtig, dass sich Jugendliche mit den angesprochenen Themen beschäftigen und darüber diskutieren. Deshalb könnte ich es mir sehr gut als Schullektüre in der Mittelstufe vorstellen.

© Parden