Rezension

Was bleibt ist Freundschaft

Die Geschichte des verlorenen Kindes - Elena Ferrante

Die Geschichte des verlorenen Kindes
von Elena Ferrante

Ich habe schon viel von den begeisterten Rezensionen und Pressestimmen gelesen, die diese vierteilige Reihe von Elena Ferrante begleiten. Leider ist es mir bis dato nie gelungen, auch nur eine Seite dieser Geschichte zu lesen. Bis jetzt! Und ich muss gestehen, dass ich super neugierig auf die Geschichte war. Elena Ferrante schließt mit dem vierten Band "Die Geschichte des verlorenen Kindes" eine über viele Jahrzehnte andauernde Reise der zwei Freundinnen Lila und Elena ab und schlägt dabei gekonnt den Bogen zwischen dem ersten Band und dem letzten.

Im Zentrum stehen die 70er Jahre bis in die Gegenwart - und dem Verschwinden Lila's. Aus der Perspektive Elena`s erleben wir, wie diese ihren Mann verlässt und mit ihrer großen Jugendliebe Nino zusammenkommt und dabei gegen jegliche Konventionen verstößt. Wir erleben ihre Unsicherheit als Schriftstellerin, bevor sie den Erfolg mit ihren Büchern hat, den sie sich wünscht. Gleichzeitig erfahren wir aber, dass sie Zeit ihres Lebens an ihrer schriftstellerischen Begabung zweifelt. Wir erleben Elena als Mutter heranwachsender Töchter. Und begleiten sie auf ihren Weg zurück nach Neapel und damit zu Lila, die es selbst nie geschafft hat, sich der Enge und dem mafiösen Beziehungsgeflechts des Rione zu entziehen. Trotz des Versuchs sich von Lila zu lösen, vielleicht auch im Versuch sich selbst eine eigene Identität zu geben, gelingt es Elena nie ganz sich von der Meinung und dem Einfluss von Lila zu lösen, die wiederum im Bezug auf Elena eine eigene Agenda zu haben scheint.

Diese sehr bewegende und komplizierte Freundschaft überbrückt dabei Höhen und Tiefen. Ja, ich möchte sogar sagen, beide verbindet eine Art Hassliebe. Denn Lila's Zynismus und offene - teils verletztende - Ehrlichkeit stößt Elena ab, wie sie sie anzieht. Beide bilden auf ihre eigene Art eine wunderbare Symbiose. Vor dem Hintergrund italienischer Geschichte und der gesellschaftlich-sozialen Veränderungen, die Italien in den Jahrzehnten, die wir verfolgen, erlebt, ist Ferrante ein wirklich außergewöhnlicher Roman gelungen. Die Sprache ist teilweise sehr getragen mit viel indirekter Rede und durch den berichtenden Erzählstil Elena's vielleicht für den einen oder anderen Leser nicht einfach. Auch ich hatte am Anfang meine Probleme in den Lesefluss zu finden. Der gesamte Roman wirkt insgesamt etwas schwerfällig, nicht im negativen Sinne, sondern Ferrante benutzt diesen Stil, um die sich verändernden Lebensverhältnisse der beiden Frauen zu schildern. Beide sind reifer geworden, Familienmenschen, die Trennungen hinter sich haben, Schicksalsschläge erleben und ihren eigenen Weg finden müssen. Beide sind nüchterner und haben keinen verträumten Blick mehr auf das Leben. Das wird vor allem in vielen Aussagen von Lila sehr deutlich. Und überträgt sich nicht zuletzt auf die Sprache und Grundstimmung des Buches. Das gelingt meines Erachtens nicht jedem Autor.

Ich für meinen Teil kann dieses Buch ohne Bedenken weiterempfehlen. Ferrante ist eine wirklich großartiges Stück der Gegenwartsliteratur gelungen. Eine große Geschichte von Freundschaft, Liebe und Hass in einer impulsiven Stadt wie Neapel - mit Suchtpotenzial, denn ich werde mit Sicherheit die anderen drei Bände noch lesen.