Rezension

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Was hat sich der Verlag dabei gedacht?

Ich bin ich - und jetzt? - Nico Abrell

Ich bin ich - und jetzt?
von Nico Abrell

Ohne Mehrwert, wenig Inhalt

Nico Abrell schreibt "über Mobbing, Outing und das erste Mal" als mittlerweile bekannter YouTuber. Der Deutsche Taschebuchverlag hat aus den zahlreichen, persönlichen Videos, Antworten, Mutmachgeschichten und Erlebnissen des jungen Mannes ein kleines Büchlein erschaffen. Ziel dabei ist, anderen jungen Männern (und sicherlich auch so mancher jungen Dame) Mut zu zusprechen, wenn es darum geht, man selbst zu sein. Dabei geht es nicht um die Ecken und Kanten, sondern um das Outing, homosexuelle Neigungen zu haben. Der Weg ist nicht einfach, schreibt Abrell von eigener Unsicherheit und Unverständnis sich selbst gegenüber. Geht das alles, kann das sein, ist das so, hatten die Klassenkameraden mit ihren ständigen Andeutungen recht, waren die abschätzigen Bemerkungen gerechtfertigt? Letzteres weniger, denn Mobbing ist niemals gerechtfertigt. Der junge Autor erzählt in kurzen Abschnitten, welche Schritte scheinbar notwendig sind, wie er seine Liebe gefunden hat und sich seiner besten Freundin und seiner Mutter offenbarte und was man am besten tut und sagt, wenn man den Abfälligkeiten anderer ausgesetzt ist. Zwischendurch gibt es genug Platz für Fragen des Lesers oder eigene Tipps, die man sich notieren kann.

Ich bin ich scheint ein Selbsthilfe- und Mutmachbuch zu sein, bleibt aber bei den hohen Absichten ein bisschen auf der Strecke. Die Lektüre lässt fragen, ob ein tieferer Sinn dahintersteckt, ein wirklicher Mehrwert. Es sind zahlreiche gute Ansätze, eine Handvoll Tipps, aber die Lektüre bleibt weit hinter meinen Erwartungen zurück. Ein zusammengewürfelte Potpourri zusammenhangloser Geschichten, die einem nicht wirklich viel geben. Schreibt Abrell vom Outing vor seiner Mutter, erwartet man, dass doch etwas mehr erzählt wird, als ein kurzes: Ich hab es ihr gesagt, anfangs fiel es ihr nicht leicht, heute kommt sie damit klar. Aha. Aber was mache ich denn nun, wenn ich Angst habe, mit meinen Eltern darüber zu sprechen und wenn ich mich dann dazu durchringen kann und sie reagieren entsetzt oder zumindest so schockiert, dass man doch eine ganze Zeit lang diesen komischen Bruch in der Eltern-Kind-Beziehung spürt? Das wird nicht beantwortet. Stattdessen rät Abrell nur dazu, sich einfach mal zu outen. Ein bisschen dürftig. Dafür bietet er immer wieder an, dass man ihm schreiben könne, hätte man Fragen. Die Aufzählung seiner Lieblingsfilme ist nicht mal sonderlich interessant, weil sie einfach nichts zum eigentlichen Thema beitragen kann.

Erwartet hätte ich die angekündigten Insiderstories in ausführlicherer Form, so dass wirklicher Mut vermittelt wird, sowie mehr Inhalt. Bekommen habe ich stattdessen eine Art Notizbuch, das vielleicht für 14 Jährige nett ist, wenn sich die Eltern oder die beste Freundin denkt, man könnte schwul sein und will aber nicht so direkt mit der Tür ins Haus fallen. Das ist sehr schade, denn eigentlich wäre das Thema sehr wichtig, genauso wie eine bessere, ausführlichere, fundiertere Auskunft über den Umgang mit Mobbing, Ablehnung nach dem Outing und die Beantwortung einiger Fragen über das erste Mal. Wobei ich hier weniger dem Autor einen Vorwurf machen würde, sondern vielmehr dem Verlag, der aus dem Wirken Abrells mehr Inhalt hätte ziehen müssen. Interessant wäre ein Interview mit Nicos nicht ganz unbekanntem Partner gewesen, dessen Sichtweise und Erleben. Genauso hätten seine Mutter und Schwester zu Wort kommen können, um zu verdeutlichen, dass der Sohn immer noch der gleiche ist, nur vollkommener seit seinem Outing. Schaut man sich nämlich den YouTube-Channel NICO an, ist da sehr wohl so viel mehr, ein Mehrwert, verschiedene Themenbereiche, Fragen, Antworten, ordentliche Beiträge mit Hand und Fuß, Sinn und Verstand. Warum hat man also das Buch nicht ähnlich gestaltet?