Rezension

Was hat sich verändert?

Unser kostbares Leben -

Unser kostbares Leben
von Katharina Fuchs

Bewertet mit 4 Sternen

          Für mich als Ostdeutsche und in den 50er Jahren Geborene war es eine interessante Zeitreise in das Westdeutschland der 70er und 80er Jahre.

Die umfangreiche Geschichte gefiel mir gut, auch weil die Protagonisten ausführlich vorgestellt werden. Da sind in erster Linie die beiden zehnjährigen Mädchen Caro Stern und Minka Schönwetter. Beide stammen aus gutsituierten Elternhäusern und haben jeweils mehrere Geschwister. Vater Stern führt als Generaldirektor die örtliche Schokoladenfabrik und Vater Schönwetter ist der Bürgermeister von Mainheim. Die dritte Hauptfigur wird uns mit der Vollwaise, der Vietnamesin Claire vorgestellt, die als „Boatpeople" in die Bundesrepublik kam und im Kinderheim des Ortes ihre neue Heimat findet. Es sind also im wesentlichen die drei Mädchen neben vielen anderen wichtigen Charakteren, die in dem über 600 Seiten starken Roman die Hauptrollen spielen. Wir begleiten sie ab 1972 bis 1983, wo sie ihren Platz im Leben und ihre Berufung gefunden haben.

Für mich war es die erste Begegnung mit einer Geschichte von Katharina Fuchs. Ihr Schreibstil und die Darstellung ihrer Charaktere in dem geschichtlichen Kontext sagen mir sehr zu. Ich vermochte mir ein lebendiges Bild der kleinen Stadt Mainheim und ihrer Bewohner anhand ihrer plastischen Schilderungen machen. Das sind z. B. die besonderen Luftverhältnisse im Ort, die sich je nach Windrichtung ändern. Einmal ölig und süßlich durch die Schokoladenfabrik Cassada oder beißend, brennend für die Atemwege durch die Schadstoffe des Pharmaunternehmens Ruberus AG. Sechs Männer und indirekt eine Frau bestimmen die Geschicke des Ortes und damit auch die Lebensläufe der Bewohner. Obwohl die Chemiedämpfe der Ruberus AG die Bürger Mainheims quälen, wird nichts unternommen. Es gibt keinen Widerspruch, keine Proteste, nur Fenster und Türen zu. Sie schweigen, sie dulden. Es wird hingenommen!

Der Roman unterteilt sich in 3 große Abschnitte (I. Buch: Mainheim, 27. April 1972; II. Buch: Mainheim, September 1976; III. Buch: 1980). Dazwischen erfährt man ausführlich durch Kapitelüberschriften mit den Namen der handelnden Personen in ausführlicher Weise über die Geschehnisse der Zeit einschließlich der Infos über Mode, Musik, Einrichtungsgegenstände und bekannte Label für Konsum und Haushalt. Die ganz großen Themen der damaligen Zeit finden viel Raum in der Erzählung: Umwelt- und Naturschutz, Tierversuche, Medikamentenexperimente an Kindern, die Wahlen, das Ende der Brandt-Ära und des Vietnamkrieges, Demonstrationen, die Besetzerszene, die neue Partei Die Grünen und Petra Kelly ...

Das breite Spektrum ist sehr beachtlich und teilweise beklemmend wegen der Brisanz, der Aktualität. Vieles wird angesprochen und meine vorrangige Feststellung aus dem Roman ist, dass wir in all den Jahren nicht viel erreicht haben trotz der Erkenntnis von Minka auf S. 601: "Wir können nicht darauf warten, dass die Zeit etwas verändert, wir müssen es selbst tun".

Meine Empfehlung für die Lektüre, die sich mit der Zeitgeschichte befasst. Ich bewerte mit vier von fünf Sternen.