Rezension

Was ist Heimat?

Ich bleibe hier
von Marco Balzano

Bewertet mit 5 Sternen

Ein eigentümliches Bild, das der Blick auf den Reschensee bietet. Eine spiegelglatte Oberfläche, aus deren Mitte ein Kirchturm ragt. Was ist hier geschehen? Und was hat es mit den Menschen gemacht, denen keine andere Wahl blieb, als ihre Heimat zu verlassen?

Diesen Fragen geht der mehrfach ausgezeichnete Autor Marco Balzano in seinem neuen Roman „Ich bleibe hier“ nach, in dem er aus Sicht von Trina, Lehrerin und Bäuerin, die damaligen Ereignisse rekapituliert und den Leser am Beispiel des Städtchens Graun mit der schmerzhaften Geschichte Südtirols vertraut macht. Italienisch oder Deutsch, Mussolini oder Hitler. Eine Region, die vor dem Zweiten Weltkrieg zum Spielball der Mächte wird.

Die Muttersprache ist ein zentrales Thema, das sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch zieht. Sie stiftet Identität, dient aber gleichzeitig auch als Kontrollmechanismus der Herrschenden und ist auch dafür verantwortlich, dass nach der Zwangsitalienisierung Südtirols unter Mussolini viele Grauner ein strammes Deutschtum entwickeln und empfänglich für Hitlers „Heim ins Reich-Ruf“ werden. Es sind nicht viel, die bleiben, die weder dem einen noch dem anderen trauen, sondern misstrauisch sowohl gegenüber dem Duce als auch dem Führer sind. Die an ihrer Heimat hängen, sich ihre Skepsis bewahren, diese aber dennoch verlassen müssen. Trotz aller Widerstände lassen die Italiener von dem Staudamm-Projekt nicht ab, siedeln die Übriggebliebenen um, die sie mit lächerlichen Ausgleichszahlungen für den Verlust ihrer Heimat entschädigt haben. Wie es endet, ist bekannt. Das Tal wird 1950 geflutet.

„Ich bleibe hier“ ist eine Geschichte des Untergangs. Sie klagt nicht an, aber rüttelt auf, denn Balzano gibt in diesem dicht erzählten Roman den Vertriebenen eine Stimme. Er taucht in seine Figuren ein, schildert deren Gefühlswelt ohne überflüssige Sentimentalität und beeindruckt mit seiner klaren Sprache gerade deshalb den Leser. Jedenfalls werde ich beim nächsten Urlaub in Südtirol die zweisprachigen Hinweisschilder mit anderen Augen sehen.