Rezension

“Was ist mit uns geschehen?” Ein Roman über die Entfremdung

Die Überlebenden -

Die Überlebenden
von Alex Schulman

Bewertet mit 5 Sternen

Drei Brüder halten die Urne ihrer Mutter in den Händen. In einem letzten an die Söhne gerichteten Brief hatte diese ihnen aufgetragen, ihre Asche am Sommerhaus zu verstreuen. Nils, Pierre und Benjamin, das sind die Überlebenden, die sich Auseinandergelebten, die Brüder, die nach Jahren wieder richtig zusammenkommen. Ungesagtes hängt zwischen ihnen, Kränkungen und Schmerz. Denn ein bestimmter Tag am Sommerhaus hat das Leben der Familie für immer verändert und sie in ihren Grundfesten erschüttert. 

“Die Überlebenden” ist eine Geschichte über Familienbeziehungen, über Schuld, Verdrängung und Trauma. Die Brüder sind durch das Ungesagte und das Unverarbeitete zu Fremden geworden. All die Fragen, die sie einander nicht gestellt haben, all die Gespräche, die sie nicht geführt haben, haben zwischen ihnen einen Graben aufklaffen lassen, der unüberbrückbar scheint. Benjamin geht in der Stadt an Pierre vorbei, ohne ihn zu grüßen und besucht Nils’ Zuhause erst, nachdem dieser dort schon seit Jahren wohnt. Sie wissen nicht mehr “wie man sich in die Augen sieht, ihre Gespräche finden mit gesenktem Blick statt”. Der Zusammenhalt aus der Kindheit scheint vergessen. 

“Was ist mit uns geschehen?” kann man daher als Leitfrage dieses Romans bezeichnen. Es ist das Zwischenmenschliche, das Auseinanderbrechen, das zuvor noch tief Schlummernde und nun an die Oberfläche Drängende, was ihn auszeichnet. 

Alex Schulman erzählt seine Geschichte in einem unaufgeregten Rhythmus. Zeitsprünge gehen fließend ineinander über und auch die Anachronie stört den Lesefluss nicht. Es geht dem Autoren nicht um Spannung oder möglichst viel Dramatik. Sein Fokus liegt stattdessen auf den Beziehungen zwischen seinen Charakteren, auf ihren Entwicklungen und auf ihrer Wahrnehmung der Welt. Schulmans Stil wirkt dabei stets sehr bildhaft, verdichtet und eindringlich. Besonders die Kindheitserinnerungen, für die das Sommerhaus den idyllischen Schauplatz bietet, tragen dazu bei, dass der Roman schon früh eine greifbare Atmosphäre entwickelt.  

Es gelingt dem Autor, das, was mit der Familie als Ganzes und mit jedem einzelnen der Familienmitglieder passiert ist, auf sehr eindrückliche Weise darzustellen. Benjamins Perspektive und seine spezielle Sicht auf die Welt, das rückblickende Erzählen, die glaubhaften Charakterentwicklungen der drei Brüder und das über allem stehende Trauma haben den Roman für mich zu einer Lektüre gemacht, die noch lange nachhallen wird. “Die Überlebenden” kann daher uneingeschränkt empfohlen werden und ist eine der bemerkenswertesten Neuerscheinungen dieses Spätsommers.