Rezension

Was passierte mit Suzannah?

Bilder von ihr - Karen-Susan Fessel

Bilder von ihr
von Karen-Susan Fessel

Bewertet mit 5 Sternen

Theas große Liebe Suzannah ist tot; doch wir erfahren noch nicht, was mit ihr passiert ist. In Rückblenden erleben wir mit, wie Thea damals kurz vor dem Abitur alles hingeworfen hat und nach Berlin gegangen ist. Theas Jugendfreund Marc wird nie begreifen, warum Thea die Beziehung zu ihm und zu ihrer Vergangenheit so radikal kappte. Suzannahs bevorstehender Tod hing beim Lesen wie eine bedrohliche schwarze Wolke über mir - mit jeder Seite, die ich umblätterte, fürchtete ich, dass ich jetzt mit Suzannahs Tod konfrontiert würde, dass jetzt alles vorbei sei. Schon auf den ersten Seiten des Buches entsteht von Thea das Bild eines einsamen Kinds, das vor jeder Form von Nähe flieht. Theas Vater starb früh und man ahnt, dass darin ein Grund für Theas distanziertes Verhalten liegen könnte. Später wird Thea immer wieder von Neuem einen Grund suchen, der gegen ihre Liebe zu Suzannah spricht; sie will die Geliebte nicht an sich heranlassen, um sie nicht zu verlieren. Wie hat Suzannah, die weltgewandte Fotografin es eigentlich erreicht, dass dieses unsichere, kratzbürstige Wesen sich ihr geöffnet hat? Zwischen Theas Ankunft in Berlin, als sie knapp 18 war, und Suzannahs Tod liegen ungefähr sieben Jahre. Drei Jahe nach Suzannahs Tod muss Thea mit den für sie unerträglichen hilflosen Versuchen derer leben, die sie mit ein paar Allgemeinplätzen trösten wollen. Thea ist inzwischen gereift, ihre gewachsene Ausdruckskraft lässt hoffen, dass sie auf dem Weg ist, sich mit Suzannahs Tod abzufinden. Durch die Rückblenden und das große Geheimnis, das sich um die schöne Suzannah rankt, baut sich eine kaum auszuhaltende Spannung auf. Als Leser will man nicht nur wissen, was mit Suzannah passiert ist, sondern warum Thea so panisch jede enge Beziehung scheut. Dass das Gefühl der Verlassenheit, dass seit dem Tod beider Eltern Theas Leben bestimmt hat, bei ihr damals zunehmend in Wut umschlug, konnte doch nicht allein der Grund dafür sein, dass sie niemandem vertrauen konnte!

In Berlin war Thea damals bei ihrem Onkel Paul untergeschlüpft, zu dem sie schon als Kind ein sehr enges Verhältnis hatte. Sie jobt in verschiedenen Kneipen, arbeitet längere Zeit als Hilfskraft in einer Anwaltskanzlei und träumt sogar davon, Zeichnerin zu werden. An einem bestimmten Punkt erkennt Thea, dass Paul schwul ist. Thea war sich schon immer sicher gewesen, dass Paul und sie Seelenverwandte sind. Paul, der Thea kennt wie kein anderer, ist Theas einziger Verwandter; er bildet den Anker in ihre Vergangenheit. Thea und Suzannah hatten eine eigenartige Beziehung. Während Suzannah wie eine Getriebene in aller Welt als Fotografin unterwegs war, blieb Thea währenddessen meist in Berlin. Über die Fotografie, für die Suzannah lebte, haben beide nur selten gesprochen. Wenn Thea Fotos von Suzannah betrachtete, dann in Suzannahs Abwesenheit. Diese innere Distanz Theas finde ich befremdlich und zugleich faszinierend. Die Baustellen in der Biografie Theas, die erst allmächlich freigeräumt werden, haben Fessels Lesern sehr viel mehr zu sagen als man aufgrund des Allerwelts-Buchcovers befürchten könnte.

Fazit:
Begeistert an diesem Buch hat mich die treffend gezeichnete Atmosphäre der Stadt Berlin - jemand geht über die Straße, schließt seinen Werkstattschuppen auf - und schon stand mir ein typischer Berliner Straßenzug vor Augen. Fessels Nebenfiguren sind äußerst liebevoll angelegt - es gibt um Thea herum, sowie in Suzannahs Familie und Freundeskreis eine Menge faszinierender Persönlichkeiten. Dennis, ein gehörloser Schwuler, mit dem Thea eine Zweck-Wohngemeinschaft eingeht, ließ mich zuerst schlucken. Doch Dennis ist mit seiner Behinderung sehr glaubwürdig charakterisiert. Dass eine außergewöhnliche Frauenbeziehung auf tragische Weise durch den Tod endet, kann nicht allein der Grund sein, dass diese Geschichte ihre Leser so bald nicht wieder loslässt. Jemand nannte den Roman ein Buch, das mitwächst. Diesen Eindruck hatte ich stark bei der Entwicklung von Theas Sprache. Ihre Ausdruckskraft dokumentiert, wie sie an ihrem Schicksal wächst. "Bilder von ihr" war für mich sehr viel mehr als ein Roman über eine Liebe zwischen Frauen. Erwartet hatte ich ein zutiefst deprimierendes Buch über den Tod, gefunden habe ich ein Buch über eine Frau, die ihr Leben aus einzelnen Steinen zu einem Pfad zusammenfügt. "Heute sehe ich, das alles was geschah, aufeinander aufbaute, dass jedes Erlebnis ein Stein war, an den der nächste nahtlos passte, so dass nach und nach ein stabiler trittsicherer Pfad entstand, auf dem ich lief."