Rezension

Was und wem kann ich glauben?

Der Mann, der alles sah -

Der Mann, der alles sah
von Deborah Levy

Was und wem kann ich glauben?

London 1988. Saul Adler, 28 Jahre alt, lässt sich von seiner 23-jährigen Freundin Jennifer Moreau auf der legendären Abbey Road beim Überqueren des Zebrastreifens fotografieren. Dabei wird er aber angefahren, wobei ihm nichts Schlimmes passiert, außer dass der Außenspiegel eines Autos beschädigt wird. Kurz darauf der nächste Schock: Seine Freundin lehnt seinen Heiratsantrag ab und trennt sich plötzlich von ihm.

 

Nach ein paar Tagen reist er dann in die DDR, um über die kulturelle Opposition gegen den aufsteigenden Faschismus in den 30er Jahren zu forschen. Dort lernt er Walter kennen, der sein Dolmetscher ist und bei dessen Mutter und Schwester Saul während seines dortigen Aufenthaltes wohnen wird. Er fängt sowohl mit Walter als auch mit seiner Schwester Luna eine Affäre an. 

 

Dann kommt ein Zeitsprung. Wir befinden uns im Jahr 2016. Walter ist 56 Jahre alt und überquert ein weiteres Mal die Abbey Road. Und wird wieder angefahren. Diesmal kommt er aber nicht so glimpflich davon.

 

Mehr will ich zu dem Inhalt nicht sagen, da man den Roman am besten selbst lesen muss, um seine Komplexität zu durchleuchten.

 

Meinung:

 

WOW! Ich bin absolut begeistert von diesem Buch und würde es jetzt am liebsten ein zweites Mal lesen, weil sich einem erst am Ende des Romans alles erschließt und auf eine sinnvolle Weise zusammenkommt. 

 

Zunächst einmal muss ich den Schreibstil von Deborah Levy loben. Sie schreibt leicht, sodass sich die Seiten schnell lesen lassen, aber gleichzeitig auch unglaublich poetisch und malerisch, wodurch sie Situationen sehr passend und bildlich beschreibt. 

 

Der Protagonist Saul war mir nicht besonders sympathisch. Er ist sehr narzisstisch und auf sich bedacht. Gleichzeitig passt er sowohl auf sich, als auch auf seine Mitmenschen nicht gut auf. Seine Beziehung zu Walter und zu Luna sind interessant mitzuverfolgen und wichtig, um seine Entwicklung zu verstehen. Er ist geplagt von einem schlechten Gewissen, er trauert einer Liebe hinterher und bereut im Nachhinein viele Dinge, die er getan hat.

 

Die Autorin hat die zwei Zeitebenen raffiniert miteinander verwoben, sodass wir mit einer zeitlichen Retrospektive mehr über Saul und seine Familie erfahren. Wenn man denkt, dass man das Geschehene langsam zu verstehen anfängt, kommt etwas Neues hinzu, was neue Fragen aufwirft, weshalb die Spannung im Roman nie abnimmt. 

 

Man muss aufmerksam lesen, um zu verstehen, was passiert und passiert ist. Personen treten ein weiteres Mal auf, wobei sie in Realität doch nicht dieselben sind wie zu Beginn der Geschichte. Viele Dialoge erscheinen zunächst unsinnig und verwirrend, weil sich deren Sinn erst im Verlauf des Romans erschließen lässt.

 

"Er ist noch bei uns, aber war er jemals bei uns?"  (S. 245)

 

Nichts ist so, wie es scheint. Realität und Eingebung sind untrennbar und unentwirrbar miteinander verknüpft.

 

Mit diesen zwei Zeitebenen kann man tief in das Innere des Protagonisten blicken. Seine Ängste, Sorgen und seine Trauer werden deutlich sichtbar. 

 

Sehr interessant finde ich auch den historischen Kontext, in den die Geschichte eingebettet ist. Der Kontrast zwischen der DDR, dem damaligen Leben und der Sorgen der Menschen dort, und der Gegenwart zu Zeiten des bevorstehenden Brexits und der Freiheit der Menschen in London ist eindrücklich gelungen.

Fazit:

 

Das Buch hat mich begeistert. Der Roman ist auf einem sehr hohen Niveau und in einer wundervollen Sprache geschrieben. Ständig überlegt man als Leser*in, was nun wirklich passiert und was nicht! Es ist ein sehr außergewöhnliches und einzigartiges Buch, was ich jedem nur empfehlen kann, der anspruchsvolle und besondere Romane liebt.