Rezension

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Was wäre, wenn ...

Vom Ende der Einsamkeit
von Benedict Wells

Bewertet mit 3.5 Sternen

„Wenn ich nicht soundso, dann hätte vielleicht...“ und die allseits beliebte Antwort auf solche Überlegungen folgt postwendend „hätte hätte Fahrradkette“ - kennt man ja, oder? Dahinter steht diese Idee, dass das Leben aus Abzweigungen besteht und dich jede Entscheidung nur in eine Richtung bringt. Und weil wir immer entscheidungsunfreudiger werden, stellen wir uns immer öfter die Frage, ob uns der andere Weg nicht besser gefallen hätte. Manchmal treffen aber andere für uns Entscheidungen oder einer von ganz oben und dann fühlt es sich besonders so an, als wäre man völlig falsch abgebogen. Jules aus Benedict Wells Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ kennt dieses Gefühl sehr gut. Gestern führte er ein perfektes, glückliches Leben mit seinen Geschwistern in einer behüteten Umgebung und heute bricht mit der Nachricht vom Unfalltod der Eltern eine Welt zusammen. Die Geschwister kommen zusammen auf ein Internat und kämpfen sich jeweils allein durch den so plötzlich fremden Alltag. Sie verändern sich. Aus der kindlichen Liz wird ein cooles, aufsässiges Mädchen mit unstillbaren Hunger auf Freiheit und Abenteuer. Sie schmeißt die Schule, reist für Jahre durch die Welt und ist unerreichbar für den kleinen Bruder. Marty, der große Bruder, bleibt ein Nerd und verliert sich lieber in Computerspielen. Jules als Jüngster der Geschwister verliert seine Selbstsicherheit und wird ein Außenseiter mit traurigen Augen. Der einzige Lichtblick in Jules Leben ist seine Freundschaft zu Alva, die eine eigene Traurigkeit und Verlassenheit ausstrahlt, aber darüber nicht reden will. Nach dem Abitur verlieren sich die beiden aus den Augen und Jules ist fortan auf der uninspirierten Suche nach seinem Weg im Leben, hält sich an Jobs und Frauen, ohne mit echtem Gefühl dabei zu sein. Dann trifft er Alva wieder und wird gezwungen, sich mit sich selbst und seinen Vorstellungen von der Zukunft auseinander zu setzen.

Den Roman durchzieht für einen großen Teil der Handlung die Frage des Ich-Erzählers Jules, wie sein anderes Leben ausgesehen haben könnte. Das Leben, in dem seinen Eltern nicht plötzlich gestorben wären. Statt sich mit dem Leben auseinander zu setzen, in dem er sich befindet, verhält er sich wie ein Wartender, der eben so gut es geht die Zeit überbrückt, bis der richtige Zug einfährt. Er ist passiv.

Ich verstehe den Ansatz von Wells sehr gut. Er erzählt von der Sprachlosigkeit im Miteinander, die Missverständnisse schafft, Einsamkeit hervorruft und Groll auf den Gegenüber, weil man seine Handlungsweise nicht versteht. Er erzählt von den Scheidewegen im Leben, wie sehr Verlust traumatisieren kann, wie tief das Trauma geht, auch wenn man nach außen weiterlebt, weiterleben muss. Die Geschwister finden sich wieder zusammen, stärken sich, geben sich Halt – doch mit der dunklen Seite in sich muss jeder selbst klar kommen. Dieser Part der Geschichte ist sehr stark, er zieht dich völlig hinein, lässt dich die Trauer, die Ohnmacht, die Traurigkeit fühlen. Dann treffen sich Alva und Jules wieder und das Glück klopft an die Tür. Damit kommen wir alle drei nicht zurecht – Jules, Wells und ich als Leser. Wells gönnt uns das Glück nicht, wir dürfen es nicht genießen und plötzlich ist der Sog weg. Jules Ton verändert sich, wird monoton, nacherzählend, fade. Ich glaube seinen Worten nicht mehr, beginne mich für ihn zu fragen, was wäre, wenn… und schließe das Buch nicht mit dem Gefühl, dass die Einsamkeit ein Ende gefunden hat. Wells Figuren sind stark in ihrer Verlorenheit, im Glück fühlen sich unwohl und werden unglaubhaft. Vom Glück kann man nicht erzählen, das will man leben und damit sind wir wieder bei Tolstoi: Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre eigene Art.