Rezension

Was, wenn Dir niemand die Wahrheit sagt?

Ich. Darf. Nicht. Schlafen. - Steve Watson

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
von Steve Watson

Zum Inhalt: Christine Lucas lebt in einem Alptraum. Sie leidet an einer seltenen Variante der Amnesie, die dazu führt, dass sie keine Erinnerungen, die über einen Tag hinaus andauern, bilden kann. Jeden Morgen schlägt sie die Augen auf, in der Erwartung, ihr eigenes, Mitte Zwanzig Jahre altes, Gesicht im Spiegel zu erblicken, manchmal ist es sogar die kindliche Christine, die morgens das Bewusstsein erlangt. Und jeden Morgen ist es ein fürchterlicher Schock, wenn Christine langsam realisiert, dass mittlerweile Jahrzehnte, an die sie sich nicht erinnern kann, vergangen sind. Weder ist sie noch ein Kind, noch ist sie Mitte Zwanzig – die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegen blickt und ihren Namen trägt, ist Ende Vierzig, verheiratet und aufgrund ihrer Gedächtnislücken vollkommen fremd im eigenen Leben. Während sie zunächst absolut hilflos und zu hundert Prozent auf die Unterstützung ihres Mannes Ben angewiesen ist, scheint sich die Situation zu ändern, als Christine unter Anleitung von Dr. Nash damit beginnt, ein Tagebuch zu schreiben, indem sie versucht, zu rekonstruieren, was die Wahrheit ist. Immer wieder erscheinen wie Geistesblitze – kurz, und oft auch zusammenhanglos – lange vergessene Situationen vor ihrem geistigen Auge, die zusammengesetzt irgendwie das Puzzle ihrer Vergangenheit ergeben. Und nicht nur der dicke Mantel des Vergessens bekommt langsam Risse – Christine beginnt, an dem Bild, das ihr Mann Ben ihr als ihre gemeinsame Vergangenheit präsentiert, zu zweifeln. Warum verschweigt er ihr manche Dinge, von denen Christine mittlerweile weiß, dass sie wahr sind? Und welche Wahrheit ist die richtige? Kann sie den langsam in ihrem Kopf entstehenden Bildern vertrauen, oder spielt ihr Gehirn ihr nur einen weiteren Streich?

Eigene Meinung: Die Bedrängnis und die beklemmende Situation, die Christine als ihr Leben akzeptieren muss, waren für mich bei der Lektüre von S. J. Watsons Psychothriller auf jeder Seite deutlich spürbar. Während ich zu Beginn des Buches genauso fassungslos wie Christine war, bzw. wie Christine es jeden Tag aufs Neue ist, und genauso damit haderte, die unfassbare Situation als Realität anzunehmen, konnte ich im Verlauf des Buches gut nachfühlen, wie sie ihrem Umfeld, allen voran ihrem Mann Ben, immer mehr zu misstrauen beginnt. Und auch ihrem eigenen Gehirn, das laut Bens Erzählung bei einem schweren Unfall geschädigt wurde, kann Christine nicht vertrauen. Was ist Realität, was nicht? Was sind echte Erinnerungen, was entspringt der Fantasie, bzw. dem verzweifelten Wunsch, sich erinnern zu wollen? Wieso sollte ihr Mann Ben, der sich doch all die Jahre so aufopferungsvoll um sie gekümmert und sein eigenes Leben hinten an gestellt hat, ihr so wichtige Dinge verschweigen, bzw. ihr Lügen über die Vergangenheit erzählen?
Diese dringenden Fragen und das daraus entstehende Gefühl einer diffusen Bedrohung, gemischt mit Christines totaler Abhängigkeit von Ben, da sie sich ja am nächsten Tag jede Erinnerung, auch die an ihre Zweifel, von vorne erarbeiten muss und sich nie darauf verlassen kann, dass das auch gelingt, waren für mich die ideale Rezeptur für die Story! Ich konnte das Buch wirklich schwer aus der Hand legen, hatte während des Lesens so manche Theorie, wie alles zusammenhängt und habe nahezu genau so viele Theorien wieder verworfen.
Die Lösung des Ganzen kam für mich nicht ganz überraschend, da bis zum Ende der Geschichte beinahe jede andere Möglichkeit ausgeschieden war und ein paar entscheidende Hinweise gegeben wurden – dennoch hat dies der Spannung keinen Abbruch getan, da der Showdown sehr dicht und mit gutem Tempo erzählt wurde.
Viele andere Leser haben kritisiert, dass die Lektüre durch die Tatsache, dass Christine sich ihre Realität an jedem Tag wieder neu erarbeiten muss und sich somit einige Wiederholungen ergeben, etwas zähflüssig wird – diese Wiederholungen haben mich beim Lesen jedoch überhaupt nicht gestört, da sie umso mehr verdeutlicht haben, in welcher Situation Christine sich befindet, bzw. in welcher Situation sie für immer bleiben wird, wenn es ihr nicht gelingt, das Puzzle ihrer Vergangenheit zusammen zu setzen und zu verstehen, was passiert ist.

Auf die Verfilmung mit Nicole Kidman und Colin Firth bin ich sehr gespannt und werde sie mir sicher bald ansehen – zumindest sieht Colin Firth schon mal exakt so aus, wie ich mir Ben beim Lesen vorgestellt habe.